Vor zehn Jahren war es zehn Jahre her, dass in Berlin die Mauer gefallen ist: Damals war in den Medien und in den TV-Anstalten Europas deswegen noch viel weniger los als heute. Vor 15 Jahren war es fünf Jahre her, dass die Mauer gefallen ist: Damals wurden nur ein paar recht lieblose Dokus gedreht, die stereotyp von einer "gewissen Ernüchterung und Enttäuschung hüben wie drüben" berichteten. Vor neunzehneinhalb Jahren war es knapp ein halbes Jahr her, dass die Mauer gefallen ist: Da fand in Zagreb der Grand Prix d'Eurovision de la Chanson, vulgo Songcontest, statt. Die Österreicherin Simone biederte sich mit Keine Mauern mehr! beim vermeintlichen europäischen Durchschnittsgeschmack an und landete - wohl eher wegen ihrer langen blonden Mähne, den superlangen Beinen, dem superkurzen Röckchen und den superhohen High Heels gerade einmal im Mittelfeld. Der recht unnorwegische Beitrag Norwegens (ein Norweger ohne High Heels, Beine, Mähne) hieß Brandenburger Tor - und wurde punktelos Letzter.

Geschichte wird erst im Lauf der Geschichte wirklich Geschichte. Sie wächst und tut so, als könnten die Ereignisse, die sie transportiert, rückwirkend auch noch wachsen. In fünf Jahren wird die Mauer vor 25 Jahren gefallen sein, und da wird noch viel mehr los sein als heute - in Berlin, in Europa, und auch hier im großen Österreich. Denn man wird sich erinnern, dass die DDR das letzte Länderspiel ihrer Geschichte in Wien bestritten hat, im Happel-Stadion, das damals noch Praterstadion hieß und von Trabis umzingelt war. In großen Dokumentationen wird man Toni Polster darüber fachsimpeln lassen, wie er die DDR im Alleingang erledigt hat und warum der damalige Teamchef Hickersberger dem damaligen Sportreporter Peter Elsner die Kabinentür live auf Sendung vor der Nase zugedroschen hat. Allerdings: Hätte Österreich gegen die DDR nicht heldenhaft gewonnen, sondern peinlicherweise verloren, wäre Österreich, wie man heute weiß, infolge der DDR-Selbstauflösung trotzdem zur WM nach Italien gefahren, wenn auch überraschend, ohne Vorbereitung, ohne Druck, direkt aus dem Urlaub heraus - und wäre dementsprechend sicher Weltmeister geworden. Nur der Mauerfall hat den endgültigen Triumph verhindert.

In fünf Jahren anlässlich 25 Jahre Mauerfalls wird jedenfalls für alle gelten, was Robert Menasse heute schon sagt, der sich in seinem letzten Prosaband von der 68er-Nostalgie verabschiedet. "Wir sind" , schreibt er, "wenn wir vernünftigerweise etwas sind, Neunundachtziger." Erlebt hat Menasse die 89er-Revolution aber vor dem Fernsehapparat, wie auch ich, wie auch der deutsche Einigungskanzler Kohl (in Warschau!). Es war eben die erste Fernsehhauptabend-Revolution. Wirklich live beim Mauerfall und beim "massenhaften Triumph des Individuums" (R. M.) dabei war außer dem Volk nur Udo Jürgens - who else?

Ich bin ziemlich bewusst vor dem Fernseher sitzen geblieben, bin nicht jubelnd auf die Straße gestürzt und habe keinen zwingenden Anlass für Enthusiasmus gesehen. Nicht, dass mich die Befreiung ein Leben lang eingesperrter Menschen nicht gefreut hätte - das natürlich! Aber ich habe dem intellektuellen Gebäude, das von außen gleich drum herum gebaut wurde, misstraut: "Umstülpung des Denkens" ? - Ein wackliger Schuppen! Ein "massenhafter Triumph des Individuums" funktioniert leider immer nur, wenn ein Kollektiv, eine Gesellschaftsordnung bankrott geht. Etwas weniger euphorisch und feierlich könnte man sagen: Die UdSSR war pleite!

Welche "neue Zeit" ?

Blättere ich in meinem Tagebuch, hat 1989 der Tod Thomas Bernhards für mich damals eine größere Rolle gespielt als der der DDR. Deshalb habe ich gedacht: Es bricht eine neue Zeit an! Bernhard soll ja seinerzeit und seinerseits sehr erregt gewesen sein, als er vom Tod Doderers erfuhr, weil er, Bernhard, meinte, nun müsste und könnte erst eine neue (literarische) Zeitrechnung, eine neue Epoche anbrechen, seine nämlich. Heute liegen beide am selben Friedhof begraben, nur wenige Meter voneinander entfernt, und würden es nicht für möglich halten, dass das noch am 12. Februar 1989 literarisch abgrundtief Verpönte - das ungenierte Erzählen und Erfinden - unseren monumentalen Geschichtenzerstörern zum Trotz eine derartige Renaissance erlebt. Bestsellerlisten gab es freilich schon vor 89, aber nicht darin enthalten zu sein, war eine Frage der Ehre. Man lebte recht gut und seriös außerhalb. Zu den Dichtern, die ich für 2009 prophezeit habe, zu "Barbara Komm&Kauf Frischmuth, Josef Wash&Go Haslinger, Gert Red Bull Jonke, Reinhard Puntigamer Gruber oder Robert T-Mobile Schindel" ist es zwar nicht gekommen, aber meine Grundsatzprophezeiung vom "Poetischen Kapitalismus" ist mittlerweile Realität.

Später bin ich dann aber - auch eine Folge dieses Poetischen Kapitalismus - doch öfters nach Berlin und auch nach Leipzig gekommen, wo alles begonnen hat. Interessanterweise ist im Zentrum des ehemaligen Ostens von den europaweiten gesellschaftlichen, auch ethnischen Konsequenzen der Ostöffnung noch am wenigsten zu spüren: Wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Flaute ist es dort auch mit einer Multikultigesellschaft noch nicht weit her. Einer der wenigen Deutschen mit Migrationshintergrund hat einen Pferdefuß und lümmelt zu Bronze erstarrt über Auerbachs Keller vor der Bar "Mephisto" in der Mädlerpassage. Einmal pro Stunde qualmt dort aus dem bordeauxroten Plafond zur Freude der Touristen ein bisschen Höllenqualm.

In Berlin aber hat man die Mauer, nachdem sie geschleift war, virtuell bald wieder aufgebaut. In den Souvenirläden am Kudamm, am Pariser Platz und anderswo steht sie auf fast jeder zweiten Ansichtskarte, als sei sie nie gefallen. Und die DDR gibt es als Duschgel: "Dusch dich richtig!" In den ersten Jahren hat man übrigens auch insofern noch ein schönes Geschäft mit der Mauer gemacht, als man sie in Bröselform wohlportioniert in kleine Plastiksäckchen verteilt und - gegen Aufpreis - an die Ansichtskarten geheftet hat.

Ich hatte den Eindruck, es gab so viele derartige Plastiksackpostkarten, dass locker auch die Chinesische Mauer hineingepasst hätte. Die Mauer ist nach ihrem Fall noch gewachsen! So funktioniert Geschichte.(Egyd Gstättner/DER STANDARD, Printausgabe, 14.11.2009)