Modern Warfare 2 (Infinity Ward/Activision Blizzard) ist für PC, PlayStation 3 und Xbox 360 erschienen.

Foto: Activision Blizzard
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Bei der Durchforstung des Bildarchivs von derStandard.at nach dem Begriff "Modern Warfare" (Moderne Kriegsführung) stößt man nach chronologischer Ordung auf eine ganze Reihe an Fotos, auf denen junge Männer strahlend Videospielhüllen der Kamera entgegenstrecken oder auf Aufnahmen von Messebesuchern, die sich zu Dutzenden vor einem Präsentationsraum tummeln. Folgt man dem Zeitstrang etwas weiter in die Vergangenheit, ändern sich die Motive. Plötzlich sieht man da einen voll bepackten kanadischen Soldaten, der einem Afghanischen Kind hockend die Hand reicht, gefolgt von massiven Explosionen in der Nähe eines kleinen Wüstendorfes, gefolgt von Hong Kongs Chief Executive, der Medienwirksam mit weißen Handschuhen winkend aus dem Flaggschiff Chinas U-Boot-Flotte herausklettert.

"Der Krieg hat viele Gesichter", heißt es und er erzählt Millionen Geschichten und von Milliarden Einzelschicksalen. Genau das ist es, was den Tod von Menschen für Erzähler interessant macht. Von "Full Metal Jacket" bis "Soldat James Ryan" spritzt die Blutfontäne unaufhörlich über die Kinoleinwand und ist im Schatten großer Tragik und entsetzlicher Ungerechtigkeit dennoch nur Mittel zum Zweck, wie die Tinte auf dem Papier.

Invasion USA

Das größte mediale Ereignis (wertet man nach den Umsatzzahlen der ersten Tage) des Jahres ist allerdings kein Film und auch kein Buch, die mit weiteren Horrorgeschichten aus der Wirklichkeit aufwarten. Es ist das Videospiel "Modern Warfare 2", das ganz nach der Tradition seiner Ursprungsserie "Call of Duty", den Krieg interaktiv zu interpretieren versucht. Als Spieler wird man selbst zum Soldaten und kämpft als Mitglied eines frei erfundenen multinationalen Spezialkommandos, Task Force 141, auf realen Schauplätzen gegen fiktive Schurken, deren Wurzeln querbeet in den aktuellen Krisenherden des Planeten festgemacht werden könnten. Beim digitalen "War On Terror" brennt sogar ganz ohne George W. Bush der Hut.

Nach einem Terroranschlag in einem Moskauer Flughafen lassen die Schurken rund um "Vladimir Makarov" einen enttarnten US-Undercover-Agenten als Sündenbock im Massaker zurück und schieben die Schuld damit auf die USA. Russland zögert nicht, zum Krieg zu blasen und überrollt kurzerhand Nordamerika mit seinen Truppen. Dabei wird in der Haut unterschiedlicher Einsatzkräfte auf mehreren Fronten gleichzeitig gekämpft, um einerseits Washington vor der Untergang zu bewahren und andererseits die eigentlichen Drahtzieher zur Strecke zu bringen.

Das Zünglein an der Landmine

Entwickler Infinity Ward peitscht einen sprichwörtlich durch die Hölle. Im Häuserkampf in den Favelas von Rio stirbt man auf der Jagd nach Marakov tausend Tode und sieht perplex zu, wie es über der Vorort-Idylle Washington DCs russische Fallschirmjäger vom Himmel regnet. Nach den ersten stotternden Atemzügen wird einem bewusst, dass die Erschaffer es mit der Nachstellung von Kriegsschauplätzen sehr genau genommen haben. Wirkt der Spezialeinsatz im verschneiten Kasachstan samt Verfolgungsjagd auf dem Schneemobil noch wie eine ultraharte Hommage an 007, lassen die Bombenkrater und die omnipräsenten Raketen- und Maschinengewehr-Salven am nordamerikanischen Schlachtfeld keinen Raum für Fantasie mehr. Kameraden schreien durch den Lärm der Kriegsmaschinerie hindurch, während man auf anstürmende Gegner hält und ununterbrochen Menschen wie Fliegen fallen sieht. Die Inszenierung ist erschreckend überragend, man zweifelt nicht daran, tatsächlich am Abgrund der Menschheit zu stehen.

Dabei zitierten sich die Schöpfer in perfektionierter Form immer wieder selbst und sind sich auch nicht zu schade, andere Inspirationsquellen aufs Tableau zu bringen. Hinter dem Bordgeschütz auf einem Humvee wird man durch die engen Gassen einer Afghanischen Stadt geschleust und landet geradewegs in einem Hinterhalt (Black Hawk Down). Aus den Schützengräben erstürmt man unter dem brennenden Himmel das Weiße Haus (Sturm auf den Reichstag, Call of Duty 2) und auch sonst, springen dem Cineasten einige bekannte Bilder ins Gesicht. Die Verstrickung von Fiktion und Authentizität macht den Nervenkitzel aus. Wo es die Entwickler manches Mal übertreiben sind die Effekte. Beispielsweise spritzen einem Blutstropfen in die virtuellen Augen, wenn man getroffen wird. Das ist nicht nur gewollt behindernd, sondern wirkt auch absolut unecht und aufgesetzt.

Wortlos

Spielerisch und atmosphärisch überrollt, ernüchtert den durch Intrigen und Verluste getriebenen Soldaten Infinity Wards Bequemlichkeit, die an sich spannende Geschichte in Form von unpersönlichen Mission-Briefings zu erzählen. Erinnert an die Menschlichkeit der Wellen schlagenden Hollywood-Produktionen und auch Videospiele wie "Half-Life 2" oder "Uncharted 2", erscheint dieses im tatsächlichen Spiel nicht weniger aufwändig inszenierte interaktive Spektakel wie ein stummer Gigant. Wer die Zusammenfassung der Ereignisse bei Wikipedia nachschlägt, erfährt in etwa so viel Tiefgang, wie jemand, der das Spiel in einem Zug inhaliert.

Der vielfach zitierte Undercover-Einsatz "No Russian", in dem der Spieler an einem Terroranschlag am Moskauer Flughafen beteiligt wird, ist derart brutal, dass es nach Erörterung schreit. Anstatt auf die Motive der Täter einzugehen, wird das Massaker kommentarlos als Rechtfertigung für jede weitere Handlung hingestellt. Ob so gewollt oder doch nur PR-Gag, es wirkt wie der kindliche und oberlächliche Versuch zu provozieren. Als Spieler beißt man sich in die Lippe, weil man ahnt, dass hier viel mehr drin gewesen wäre. Genauso bieten die eigentlichen Helden mangels Charakterisierung durch Zwischensequenzen und im Spiel keinerlei Identifikationsmöglichkeiten und verkommen zu gesichtslosen Avataren, die man nur kurz benutzt, um ein Bisschen Kriegsluft zu schnuppern.

Stammspieler

Obwohl die Enttäuschung über ein weiteres dramaturgisch plattes Kriegsepos groß ist, besticht Modern Warfare 2 zweifellos als Spiel. Von der knisternden Atmosphäre abgesehen, machen sowohl die Einsätze der Solo-Missionen und insbesondere die gemeinsamen Aufträge im kooperativen "Spec Ops"-Modus und im gewohnt erstklassigen Multiplayer süchtig. Ausgekoppelt aus der Geschichte funktioniert das Gameplay praktisch perfekt.
Die Fülle an Inhalten samt Waffen, Vehikel und Gadgets vom Schlage eines Thermo-Zielfernrohres oder Drohnen und Mehrspielerbewerben rechtfertigt - nach der mit etwa 5 bis 7 Stunden sehr kurz geratenen Kampagne - den Kaufpreis vollkommen. Das Verhalten der computergesteuerten Feinde wurde kräftig überarbeitet. Diese kehren nun nicht mehr unendlich als Kanonenfutter wieder, solange man nicht voranschreitet und setzen taktische Elemente wie Granaten und Schilder erstaunlich schlau bei ihren Angriffen ein. Der Kampagne stehen die Skripte nun nicht mehr penetrant auf die Stirn geschrieben.
Der neue Spec Ops-Modus erlaubt einzelne Missionen der Story und neue Szenarien alleine oder zu zweit (Split-Screen, LAN oder Online) unter veränderten Konditionen anzugehen. Einmal gilt es eine bestimmte Anzahl an Gegenerwellen abzuwehren, ein anderes Mal muss man sich seinen Weg durch Spezialkommandos über eine zusammenbrechende Brücke schlagen. Dabei geht es gegen die Zeit und um Punkte, weshalb man motiviert wird, sich stetig zu verbessern.

Multiplayer

Nach dem schlagenden Erfolg des Multiplayer-Parts des Vorgängers, war zu erwarten, dass die Schöpfer ihren Fokus auf das Zusammenspiel legen werden. Abermals geht es um das Sammeln von Erfahrungspunkten, die neue Waffen und nützliche Hilfsmittel freischalten. Über Spezialisierungen kann man seinen Charakter seiner Spielweise anpassen und so das Optimum herausholen. Zu den Bewerben gehören neben den üblichen Modi die besonders unterhaltsamen Varianten Search & Destroy und Demolition, die modernes CounterStrike-Feeling aufkommen lassen.
Bewährt man sich am Schlachtfeld, kann man für Abschussserien insgesamt 15 neue Belohnungen ergattern. Bringt man etwa vier Gegner hintereinander zur Strecke, kann man sich zusätzliche Munition abwerfen lassen. Bei 11 kontinuierlichen Abschüssen wartet ein AC-130-Luftschlag auf die Mitspieler. Absurd: Nach 25 "Kills" darf man eine Atombombe zünden, wobei man allerdings auch unweigerlich selbst ins Gras beißt. Nützlich ist die Möglichkeit, Wiederbelebungspunkte mit Hilfe eines Leuchtstabs selbst setzen zu können.

Technik

Die technischen Neuerungen zogen schon im Vorfeld nicht bloß positive Reaktionen nach sich. Wie bei Konsolen üblich, können Multiplayer-Partien fortan auch am PC nicht mehr über Server ausgetragen werden. Anstelle dessen wird das Netzwerk von Steam genutzt. Positiv an dem überarbeiteten System ist, dass Partien automatisch den Host wechseln, sobald der ursprüngliche Betreiber offline geht. Für PC-Spieler insbesondere ärgerlich ist die Limitierung auf maximal 18 Teilnehmer, wie es bei PS3 und Xbox 360 der Fall ist. Für Xbox 360-Spieler sperrt MW2 die "Party Chat"-Funktion, damit getötete Spieler ihren Teamkameraden keine Tipps aus dem Jenseits geben können.
Eine Kleinigkeit gibt es auch an der visuellen Umsetzung zu meckern. Zwar gibt es nicht viele Multiplattform-Titel, die mit derart vielen Details auftrumpfen können, grafisch zu bemängeln sind allerdings die teils matschigen Texturen der Konsolen-Fassung. Hier wurde die native Auflösung auf sub-HD heruntergeschraubt. Bei lediglich 1024 mal 600 Bildpunkten bleibt dafür die Bildrate stets konstant.

Fazit

Mit zunehmender Popularität und der langsamen Eroberung des allgemeinen Interesses, wird sich Infinity Ward überlegen müssen, was sie mit ihren Werken künftig ausdrücken möchten. Mit der stetigen Näherung an die Realität samt Massenvernichtung und Terroranschlägen, wirkt das alte Konzept des Kriegspielens ohne Tiefgang immer stupider. Wozu sich eine Geschichte ausdenken, wenn man sich dann nicht die Mühe macht, sie ordentlich zu erzählen? So wird man zum Trittbrettfahrer eines Höllenritts, der einem in jedem Moment den Tod vor Augen hält, aber keinen Moment zum Reüssieren lässt. Kameraden sterben Seite an Seite und was bleibt ist nichts als Gleichgültigkeit, weil man sie so und so nie kennengelernt hat.

Trotz Kritik an der Erzählweise ist Modern Warfare 2 ein packendes Epos. Die Inszenierung der großen wie kleinen Konflikte setzt über weite Strecken Maßstäbe. Washington DC brennt und mit der Stadt die Hoffnung, dass ein solches Ereignis niemals real werden könnte. Ob abgekupfert oder frei erfunden, abermals werden sich bei Spielern bestimmte Momente dauerhaft ins Gedächtnis einprägen - so stark und abschreckend ist die Bildsprache.
Der Mehrspieler-Modus und die neuen Spec Ops-Missionen treiben hingegen das spielerische Vergnügen an die Spitze. Das hervorragende Gameplay und die enorme Vielfalt der Bewerbe sind der Grund dafür, weshalb man Modern Warfare 2 nach dem ersten Mal einlegen, lange nicht mehr auswerfen wird.

(Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 15.11.2009)