I
In der Arztpraxis herrschte ein Chaos wie nach einer Katastrophe. Dabei sollte es doch gerade darum gehen, eine Katastrophe zu vermeiden. Ich bekam eine Einverständniserklärung ausgehändigt und einen ellenlangen Nebenwirkungszettel. Und wie immer beim Ausprobieren von etwas ganz Neuem stellte sich ein Mischgefühl aus Bangigkeit und Heroismus ein. Ich hatte schon so viel gehört von den umstrittenen Wirkungsverstärkern in Pandemrix, Focetria und Celtura; allein der Klang dieser künstlichen Namen machte mich ein wenig schaudern; ich fürchtete schon, die Krankenschwester könnte mir aufgrund einer Verwechslung auch Uniqa, Semperit oder Arcandor spritzen.
Oder war das erst später, als das Fieber kam? Es ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten ...

II

Übrigens habe ich nach Louis Pasteur und Robert Koch selbst eine Entdeckung in der mikrobakteriellen Erregerwelt gemacht. Und zwar habe ich festgestellt, dass Zweifel sich auf ähnliche Weise wie Viren verbreiten. Ja, vermutlich gibt es ein Zweifel-Virus, das im Zusammenhang mit der sogenannten Schweinegrippe grassiert und zu einer Art Gedanken-Pandemie führt. Das Virus nistet sich dabei in gesunde Gedanken ein, infiziert ihre Grundstruktur und zwingt sie, immer mehr Zweifel zu produzieren. Zum Beispiel Zweifel, ob es richtig sei, sich gegen die sogenannte Schweinegrippe impfen zu lassen.
Erst hatte es ja geheißen: unbedingt. Dann erklärten Ärzte und Ärzteverbände die Gefahr für übertrieben, weil die Schweinegrippe harmloser sei als eine normale Grippe, dann behaupteten manche Mediziner, die eigentliche Gefahr liege in der Impfung selbst, weil gewisse in Deutschland und der Schweiz gebrauchte Zusatzstoffe noch nicht ausreichend erforscht seien; aus diesem Grund wurde dann vom Impfen kleiner Kinder abgeraten, woraufhin ein Fachverband von Kinderärzten das Impfen kleiner Kinder ausdrücklich empfahl.
Und so erkrankte ich am Zweifel nicht nur hinsichtlich der Frage, ob ich mich impfen lassen solle, sondern mein Zweifel dehnte sich auf die Zurechnungsfähigkeit des ganzen Medizinwesens aus. Wie sollte ich einem pharmazeutisch-industriellen Komplex vertrauen, der Österreich mit ganz anderen, nämlich zusatzstofffreien Impfpräparaten beliefert als Deutschland und für die Schweiz wieder andere Substanzen bereitstellt, die angeblich von Kindern besser vertragen werden, aber nichts Genaues weiß man nicht?
Die Zweifel-Ansteckung ging aber noch weiter und erfasste meine zugegebenermaßen nicht besonders widerstandsfähige Vorstellung von staatlicher Zuverlässigkeit. Dass der Vertrieb von etwas angeblich so Wichtigem und zugleich Unproblematischem wie Ampullen und Spritzen zu einem derartigen Durcheinander führt, wie man es jetzt zwischen Gesundheitsämtern, Lieferapotheken und Arztpraxen erlebt, treibt die Keimzahlen meines Zweifels steil in die Höhe. Es handelt sich ja nicht um Schwer- oder Gefahrguttransporte, weder müssen Notstromaggregate verteilt noch Plutoniumkapseln befördert werden, sondern es geht um kleine Pappschachteln und ein paar Formulare.
All diese Zweifel ergeben ein Krankheitsbild, das mit endlosen Diskussionen im Familien- und Kollegenkreis einhergeht. Wie steht es um die staatliche Verwaltung? Wie um das Medizinsystem? Und sollen wir uns nun gegen die Schweinegrippe impfen lassen oder nicht? Das sind wahrhaftig krankmachende Fragen, doch dagegen - das ist immerhin erwiesen! - kann man etwas tun. Und zwar just durch die Schweinegrippe-Impfung selbst.
Seitdem ich diese nämlich bekommen habe, bin ich gegen das ganze Hin und Her immun. Die wichtigste Wirkung der Impfung besteht darin, dass sie weiteren Diskussionen vorgebeugt. Ich bin immun gegen die öffentliche Großaufregung. Das ist ungemein entlastend, ein Zugewinn an Lebensqualität. Ich traue mich sogar, in der Öffentlichkeit zu niesen und zu husten, und sage dann allen, die mich mit schreckgeweiteten Augen anstarren: Keine Bange, bin geimpft! Und sofort kehrt wieder gute Stimmung ein.

III

Der Tag danach verfiel in Dämmer. Ich spürte, wie mein Immunsystem gleich einer magischen Maschine ansprang und unter Kopf- und Gliederschmerzen Antikörper produzierte. Antikörper sind etwas, das man wirklich als geistige Herausforderung begreifen sollte. Antikörper sind Disput im Blut. Antikörper sind auf der materiellen Ebene das, was der Autor mit Worten versucht.
Inzwischen fühle ich mich wie Asterix nach einem ordentlichen Schluck Zaubertrank. Die Symptome des ellenlangen Nebenwirkungszettels klingen langsam ab, und ich fände es direkt ein bisschen schade, wenn nicht bald eine ordentliche Pandemie losbräche. Ich führe nämlich schon seit langem eine Liste von Leuten, denen ich persönlich ein paar aktive Exemplare von H1N1 zukommen lassen würde. Aber diese Viren sind anscheinend noch schwerer zu bekommen als die Impfung gegen sie. (Burkhard Müller-Ullrich*, DER STANDARD Printausgabe, 16.11.2009)