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Das Darwin-Jahr 2009 neigt sich dem Ende zu. Die Theorien des Evolutionsforschers dienen nach wie vor als Projektionsflächen für Arbeiten zwischen Spekulation und Wissenschaft, unter anderem zur Frage der Abstammungsgeschichte des Menschen und seiner affenartigen Vorfahren.

Grafik: Aydogdu, Köck; Fotos: British Library, NHM London, Wikimedia, Reuters

Am 17. November 1877 erhielt Charles Darwin ein Ehrendoktorat von seiner eigenen Alma Mater, der Universität Cambridge. Dies war wohl einer der stolzesten Momente seines Lebens - aber vielleicht auch einer seiner lustigsten: Während der feierlichen Zeremonie schwangen die Studenten über den Köpfen der versammelten Honoratioren einen Affen an einem Seil von einer Seite der Galerie zur anderen. An dem ausgestopften Tier hatten sie einen Metallring befestigt. Darwin hat sich über diesen Streich sehr amüsiert.

Den Witz verstand damals jeder: Der Metallring stand für das Missing Link, das fehlende Bindeglied in der Abstammungsgeschichte zwischen unseren affenartigen Vorfahren und uns.

Karriere eines Begriffs

Freilich, weder in seinem Hauptwerk Über den Ursprung der Arten, das vor fast genau 150 Jahren, am 24. November 1859, erschien, noch in irgendeinem seiner anderen Bücher sprach Darwin je vom Missing Link. Und doch machte das fehlende Bindeglied als wissenschaftliche Fata Morgana und Projektionsfläche der Fantasie eine beispiellose Karriere zwischen Wissenschaft und Populärkultur - bis heute.

Wer wann den Begriff zum ersten Mal gebrauchte, lässt sich laut Peter Kjaergaard nicht mehr rekonstruieren. Der dänische Wissenschaftshistoriker beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Kulturgeschichte des Missing Link.

Von der Metaphorik her gehört das fehlende Glied zu einem vordarwinistischen Bild der Natur. In dieser statischen und hierarchischen Vorstellung sind alle Organismen in einer "großen Kette des Seins" verbunden, die vom einfachsten zum höchsten Wesen, selbstredend dem Menschen, reicht.

Nach 1859 machte der Begriff Missing Link dann aber schnell in dem Sinne Karriere, wie wir ihn heute verstehen: als Vorfahr des heutigen Menschen, der selbst noch ein halber Affe ist. Im deutschen Sprachraum wurde Ernst Haeckel zum mächtigsten Sprachrohr des Darwinismus. In seiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" von 1868 gab der Jenaer Zoologe dem fehlenden Bindeglied auch gleich einen Namen: Pithecanthropus alalus, der sprachlose Affenmensch.

Für den niederländischen Anatomen Eugène Dubois wurde Haeckels Spekulation zum Auftrag seines Lebens. Er war geradezu besessen davon, jenes Missing Link zu finden, und machte sich nach Java auf, damals eine niederländische Kolonie. Das Unglaubliche geschah: Im Oktober 1891 fand Dubois am Ufer des Trinil eine primitiv wirkende Schädeldecke, die er dem Pithecanthropus zuordnete (heute Homo erectus).

Tournee der Affenmenschen

Die Populärkultur hingegen war der Wissenschaft wieder einmal um Längen voraus. Jahre bevor Dubois sich nach Südostasien aufmachte, war das fehlende Bindeglied längst in Tiergärten, Freakshows und Zirkusarenen zu besichtigen. Geschäftstüchtige Impresarios stellten unzählige Tiere und Menschen als vermeintliches Missing Link zur Schau. Ab 1883 war "Krao" auf Tournee durch halb Europa. Dieses Mädchen aus dem heutigen Laos war fast am ganzen Körper behaart. Heute würden wir sagen, es litt an Hypertrichose. Seinerzeit wurde Krao als Beweis für "Darwins Theorie" vermarktet, "als perfektes Exemplar zwischen Affe und Mensch".

In der Populärkultur feiert das Missing Link bis heute Urstände, sei es als Yeti oder als Zeichentrickfigur im Hollywood-Blockbuster Ice Age. In der Wissenschaft hingegen ging es mit der Idee des fehlenden Gliedes im 20. Jahrhundert steil bergab. Dubois etwa konnte die Wissenschaft nicht davon überzeugen, das Missing Link gefunden zu haben.

Stammbusch entsteht

Ursprünglich sei man von einem einzigen menschlichen Vorfahren seit der Abspaltung von der Affenlinie ausgegangen, sagt der Schweizer Wissenschaftshistoriker Hans-Konrad Schmutz. Bald aber gab es mehrere Spezies der Gattung Homo, dazu noch die älteren Australopithecinen.

Der einst so einfache Stammbaum des Menschen wurde durch neue Funde, vor allem in Afrika, beständig komplizierter und verästelte sich zum Stammbusch. Und so verschwand das Missing Link als Frage - jedenfalls aus der wissenschaftlichen Literatur, wo der Begriff regelrecht zum Tabu geworden ist.

Nur: im selben Maße wie dieses sich in der Komplexität der wissenschaftlichen Diskussion auflöste, entdeckten die Kreationisten das fehlende Bindeglied als vermeintlich schwächsten Punkt der Evolutionstheorie, schildert Peter Kjaergaard. Der Beweis für eine gemeinsame Abstammung von Menschen und Affen hänge an einem einzigen Fossil, insinuierten die Schöpfungsgläubigen fälschlicherweise. Noch heute findet sich auf den einschlägigen Websites der Kreationisten der "Piltdown-Hoax" - ein gefälschtes Missing Link aus dem Jahr 1912 - als ultimativer Beleg für die vermeintliche Unhaltbarkeit der Evolutionstheorie.

Hat das Missing Link also nur in der wissenschaftsfreien Zone des Kreationismus und in den grellen Fantasien der Populärkultur überlebt? Das Darwin-Jahr 2009 belehrte uns eines Besseren, schildert Peter Kjaergaard.

Neue und für viele äußerst zweifelhafte Maßstäbe in der Vermarktung der eigenen Forschung setzte heuer ein Team um den norwegischen Paläontologen Jørn Hurum.

Flankiert von einer beispiellosen Medienoffensive publizierten sie im Mai "Ida", so der Spitzname eines quasi vollständig erhaltenen, 47 Millionen Jahre alten Primatenfossils aus der hessischen Grube Messel. Eine Pressekonferenz in New York, eine aufwändige Website, vorab geschriebene populärwissenschaftliche Bücher und ein heimlich (also bereits vor der Publikation) gedrehter Dokumentarfilm des History Channels sollten dem gerade mal 50 Zentimeter großen Äffchen einen maximalen medialen Impakt bescheren. Man habe das "Link" gefunden, das "Missing" könne man in Zukunft weglassen, so Hurum.

Hype um Ida

Mit der Anpreisung eines "Achten Weltwunders" sollte wohl auch übertüncht werden, dass Ida, mit wissenschaftlichem Namen Darwinius masillae, aufgrund ihres hohen Alters nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun hat, was man gemeinhin mit dem Missing Link assoziiert, also die Abspaltung der Linie der Menschenaffen von jener des Menschen vor vermutlich sechs bis sieben Millionen Jahren. Ida steht an der eher prosaisch anmutenden Abzweigung von Trocken- und Feuchtnasenaffen.

Trotz der Kritik zahlreicher Forscher an der hemmungslosen Medialisierung sieht Kjaergaard die alten Denkmuster am Werke. Die Forscher seien - trotz der ritualisierten Beteuerung des Gegenteils - immer noch darauf fixiert, dieses eine entscheidende Beweisstück aufzutun, das das Rätsel unser Herkunft löse.

Statt vom Missing Link sprächen Wissenschafter nun eben vom "Last Common Ancestor", dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Affen. 150 Jahre nach der Publikation von Darwins "Ursprung" wäre zumindest dies geklärt: Man kann das Missing Link noch so oft finden. Die Suche wird weitergehen. (Oliver Hochadel/DER STANDARD, Printausgabe, 18.11.2009)