Für Michael Ende hatte Darwin einiges mit den Nazis zu tun.

Foto:

Michael Ende hat Über den Ursprung der Arten mit ziemlicher Sicherheit nicht gelesen. Und doch hatte der weltberühmte deutsche Kinder- und Jugendbuchautor (Die unendliche Geschichte, Momo) eine sehr dezidierte Meinung zur Evolutionstheorie. Für Ende stand das von Darwin entdeckte Prinzip der natürlichen Auslese für das Recht der Stärkeren, was zu Rassismus führe und in Deutschland sogar zum Nationalsozialismus.

Den Roman Jemmy Button von Benjamin Subercaseaux hat Ende mit Sicherheit gelesen. Dieser erschien 1957 auf Deutsch als Fahrt ohne Kompass. Der chilenische Schriftsteller greift darin die Geschichte jenes Jungen auf, der gemeinsam mit Charles Darwin auf der Beagle nach Feuerland segelte - seiner Heimat, denn die britische Marine hatte Button dort 1830 entführt.

1960 erschien dann Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Michael Endes erstes Kinderbuch wurde in Deutschland zu einem Best- und Longseller. Dass Jim Knopf, jener dunkelhäutige Junge, der per Paket nach Lummerland (=England) verschickt wird, freilich Jemmy Button ist, fiel offensichtlich niemandem auf. Und nicht nur das. Ende versuchte mit seinem Kinderbuch eine "Gegenwelt zur nationalsozialistischen Ideologie" zu schaffen, wie die FAZ-Redakteurin und Historikerin Julia Voss in ihrer lesenswerten literaturwissenschaftlichen Studie Darwins Jim Knopf zeigen kann.

Was wohl Millionen großen und kleinen Lesern durch den Kopf ging, als Jim und Lukas mit der Lokomotive Emma bei ihrer Reise nach Kummerland (=Deutschland) in einen Tunnel einfahren, aus dem schwarze Rauchschwaden quellen? Über dem Eingang warnt ein Schild: "!Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten". Wie gesagt, das Buch erschien 15 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.

Michael Ende, geboren 1929, hatte den rassistisch geprägten Schulunterricht der Nazis, ein übles Gebräu aus germanischen Mythen und Versatzstücken des Darwinismus, selbst durchlaufen. In seiner Märchenwelt triumphieren dagegen nicht der Drachentöter Siegfried oder die "reinrassigen Arier", sondern der farbige Bursche Jim Knopf und Mischwesen wie der Halbdrache Nepomuk.

Toleranz und Wandlungsfähigkeit sind die Maximen, Frau Mahlzahn (die böse Lehrerin in Kummerland) wird nach ihrer Gefangennahme nicht etwa um einen Drachenkopf kürzer gemacht, sondern wird zu einem goldenen Drachen der Weisheit. Aus dem versunkenen Atlantis, das die Nazis als mythischen Ursprung der Arier propagierten, macht Ende Jimbala, eine Insel bewohnt von Kindern und Vögeln.

Klar, Ende hat Darwin missverstanden, sprach dieser doch nicht vom Überleben der Stärksten, sondern der am besten Angepassten. Verkrüppelte Flügel können auch ein Vorteil sein - weil der Wind die flugunfähigen Käfer dann nicht ins Meer weht, wie Darwin bemerkte.

Und da gerade die Evolutionstheorie ja auch die Wandlungsfähigkeit alles Lebendigen zeige, so Voss, lägen der englische Naturforscher und der deutsche Kinderbuchautor gar nicht so weit voneinander entfernt. (hoco/DER STANDARD, Printausgabe, 18.11.2009)