Am anderen Ende der Welt gibt eine lebenswerte Stadt, ein Konglomerat mit neun, rechnet man das umliegende Ballungsgebiet bis Yokohama hinzu, mit 35 Millionen Einwohnern. Ein Menschenmeer, das versorgt werden muss, das fließt, dessen Partikel miteinander kommunizieren und konkurrieren, dessen Ausscheidungen täglich irgendwohin entsorgt werden müssen. Dennoch, Tokio ist eine lebenswerte Stadt, mit grünen Inseln und funktionstüchtigen Adern. Verglichen mit Tokio ist Zürich, was die Sauberkeit betrifft, ein Drecksloch, im Vergleich zur Verlässlichkeit der Tokioter U-Bahn rangiert die Pariser Metro im Status einer unwägbaren Schneckenpost.
Wie das geht, können nur Konfuzianismus-Experten beurteilen, aber man kann einen ganzen Tag damit zubringen, den Mighty Machines am Fischmarkt von Tokio bei der Arbeit zuzusehen. Die Kleintransporter, die ein wenig Altwiener Kohlenwagen ähneln, nur um ein Vielfaches schneller sind, scheinen bisweilen aus allen Himmelsrichtungen auf einen zuzukommen. Am besten man setzt seinen Weg fort, ohne auf sie zu achten, sie bewegen sich auf einer geheimnisvollen, alle Massepunkte miteinberechnenden Bahn. Mit einer winzigen Bewegung am Lenkrad können die Fahrer die Richtung so modifizieren, dass sie den Besuchern und Kollegen ausweichen, ohne zu bremsen und ohne die Ladung - Türme aus Styroporschachteln, Kübeln und riesigen Plastiksäcken mit Eiswürfeln - zu gefährden.
Der Fischmarkt von Tokio ist einer der größten der Welt. Angeboten werden rund 450 Fischarten, darunter Geschöpfe, für die es im Englischen und Deutschen keinen Namen gibt und von denen man nicht glauben kann, dass Menschen sie tatsächlich verschlucken wollen. Der Diskurs mit der Direktion über Tierschutz endet bei zwei Zahlen: Der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fisch liegt in Japan bei 70 Kilogramm pro Jahr, im Fischmarkt werden rund vier Milliarden Yen umgesetzt, pro Tag.
Spurenelemente japanischer Etikette
Trotz aller Betriebsamkeit sind die Verkäufer erstaunlich höflich. Auch wenn die Marktbewohner mit ihren Kollegen in Marseilles und Murmansk heute mehr gemeinsam haben als mit ihren Vorfahren aus der Edozeit, so kann jeder, der nach kulturellen Differenzen sucht, hier immer noch Spurenelemente japanischer Etikette finden. Die Fischpakete werden mit beiden Händen überreicht, begleitet von einer gar nicht so kleinen Verbeugung, die vom Käufer erwidert wird. Selbst die Touristen, die alles anfassen und aufkreischen, wenn sie in eine Lacke treten, werden geduldig ertragen.
Die Gesten der Höflichkeit sind ohne Bedeutung, aber sie sind nicht bedeutungslos. Sie erzeugen Distanz und Respekt, ihre Grammatik macht das Chaos kontrollierbar. Introspektion zählt hier wenig bis nichts, was zählt ist Scham bzw. das ständige Bemühen, den anderen nicht in eine Situation zu bringen, in der er sich schämen könnte.
Nichts geht neben sadistischen Mangas auf dem japanischen Buchmarkt besser als Benimmbücher. Es gibt für jede Situation - vom ersten Kuss bis zum Freitod - eine richtige Lösung, eine Form, die einzuhalten ist. Das viele ständige Verbeugen will gelernt sein, der angemessene Winkel, die Position der Hände und der Blick oder auch nur die richtige Form der Übergabe einer Visitkarte. Aber in Wahrheit lernt man es nie und nimmer.
Ebenso wenig wie die Anforderungen an den "hinkaku" (den Charakter) der Sumotori, ebenso wenig wie die acht, situativ verschiedenen Arten, "ich" in der grammatisch einzig richtigen Form zu sagen, ebenso wenig wie die Gesetze der Gemäßheit ("rashisa") und der Unterscheidungen ("wakimae"), ebenso wenig wie die Kunst der Inszenierung anspruchsloser, eleganter Schönheit ("wabi"). Aber sie teilt sich mit.
Moderne und Tradition
Vom Fischmarkt im Süden sind es mit der Hibya-Linie bis zur U-Bahnstation Kamiyacho in Roppongi fünf Stationen. Das Okura ist auf einem kleinen Hügel gelegen. Inmitten der lauten Stadt ein Ort oasiger Ruhe, die Hotelhalle ist eine der schönsten der Welt. Baron Okura machte vor dem Zweiten Weltkrieg ein Vermögen als Armeelieferant, sein Sohn Kishichiro investierte es mitsamt dem Grundstück des Vaterhauses in einen Hotelbau. 1962 eröffnete das nach ihm benannte Hotel, es ist insofern bemerkenswert, als es das erste japanische Hotel nach westlichem Vorbild ist, ein Syntheseversuch von europäischer Moderne und japanischer Tradition, der selbst historisch geworden ist.
Die Architektur von Yoshiru Taniguchi wirkt, als hätte eine japanische Prinzessin mit Vorliebe für florale Muster Frank Lloyd Wright geheiratet und beide hätten ihren Willen durchgesetzt. Erstaunlich wie harmonisch diese Ehe ist. Der abstrakte, scheinbar modernistische Gobelin aus Brokat und Seide vor der Bankett-Halle kopiert Kimonos aus dem 13. Jahrhundert aus der Fabrikation im Uesuguri Schrein, die Panele zum Garten nimmt Muster aus der Edozeit auf und zitiert die Papierfenster und Schiebetüren der traditionellen japanischen Häuser, die den Blick nicht freigeben, aber ein Spiel mit Licht und Schatten inszenieren.
Die Zitate setzen sich fort zur Wanddekoration mit Orchideenmotiven bis zu den hexagonalen Lampions, die wie Halsketten von der Decke hängen. Die Tischarrangements in der Lobby erinnern an Seerosen, und niemanden würde es einfallen, einen der Stühle zu verrücken. Nichts ist hier zufällig. Man verweilt und wird selbst Teil des Arrangements. Erst nach einer halben Stunde fällt einem auf, dass keine Musik die Lobby beschallt. Der riesige Raum ist völlig still.
Um wieder auf die Straße zu gelangen, muss man durch eine Schleuse von fünf Lächlerinnen, die sich freundlich vor jedem Gast verbeugen. Man ist angehalten, nicht auf sie zu reagieren. Wie auf die Betrunkenen spätabends in der U-Bahn, die vom Kontroll- in den Exzessmodus gewechselt sind und sich mit letzter Kraft bemühen, ihre Aktentaschen nicht zu verlieren. Sie sind ständig da und zugleich unsichtbar. (Ernst Strouhal/DER STANDARD/Rondo/20.11.2009)