Lilly Damm ist Mitverfasserin der Petition "Politische Kindermedizin": Sie fordert eine bessere Versorgung für kranke Kinder.

Lilly Damm (57) ist Allgemeinmedizinerin und seit 30 Jahren im Gesundheits- und Bildungsbereich tätig. Seit 2006 ist sie Mitarbeiterin des Instituts für Umwelthygiene und Public Health an der Med-Uni Wien.

Foto: Standard/Matthias Cremer

Standard: "Politische Kindermedizin" ist eine Plattform von Kinderärzten, die sich für eine bessere Versorgung von Kindern in Österreich einsetzt. Ist diese denn so schlecht?

Damm: Die Basisversorgung für gesunde Kinder ist gewährleistet, für Kinder mit chronischen oder seltenen Erkrankungen, Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten bestehen große Defizite.

Standard: Wo sind die Engpässe?

Damm: Es gibt keine sichere und ausreichende Versorgung. In Wien gibt es zum Beispiel nur einen Kinder- und Jugendpsychiater mit einem ASVG-Krankenkassenvertrag, für Kinder auf dem Land ist die Lage noch wesentlich dramatischer.

Standard: Können Sie ein konkretes Beispiel für fehlende Unterstützung geben?

Damm: Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS). Sie sind schwierig, oft aggressiv, brauchen mehr Aufmerksamkeit. Wenn sie psychotherapeutisch unterstützt werden, sehen wir Erfolge. Das, was die Krankenkassen zahlen, ist minimal, und viele Familien können sich das nicht leisten. ADHS-Kinder sind sozial schwierig, haben problematische Schulkarrieren mit Disziplinarverfahren und Schulwechseln und werden nicht selten zu Schulabbrechern. Sie haben dadurch keinen Beruf, der ihren Begabungen entsprechen würde. 80 Prozent der Kinder in psychosomatischen Stationen sind Schulverweigerer, denen das Bildungssystem hilflos gegenübersteht. Langfristig kommen sie den Staat teuer, dabei hätte ihnen mit vergleichsweise geringen Mitteln geholfen werden können.

Standard: Bei welchen Therapien müssten die Kassen großzügiger werden?

Damm: Bei allen ambulanten Therapien, also Ergotherapie, Logotherapie, Physiotherapie und Psychotherapie. Ihr Nutzen ist belegt, sie helfen Kindern, die sich schwertun, zum Beispiel bei Sprachentwicklungsstörungen. Da lässt sich so viel machen, was langfristig Probleme vermeidet.

Standard: Gibt es sie gar nicht?

Damm: Schon, aber die Wartezeiten in den Institutionen sind oft länger als ein halbes Jahr, und im niedergelassenen Bereich gibt es massive Defizite. Jeder, der mit Kindern arbeitet, weiß, dass die kindliche Entwicklung rasch vor sich geht und es sogenannte Entwicklungsfenster gibt, die man möglichst schnell nutzen muss. Durch das Warten werden wertvolle Chancen vertan. Diese Zeitverzögerung kann gerade bei Kindern mit autistischen Wahrnehmungsstörungen fatal sein.

Standard: Wie viele chronisch kranke Kinder gibt es in Österreich?

Damm: Das wird statistisch nicht erhoben. Wir schätzen aber, dass es zwischen zehn und 20 Prozent sind, das sind zwischen 170.000 und 340.000 Kinder. Natürlich müssten hier dringend Daten erhoben werden, um Ziele zu formulieren und Maßnahmen auszuarbeiten.

Standard: Wie werden diese Kinder versorgt?

Damm: Die kinderärztliche Betreuung ist ambulant und in den Spitälern gut, doch gibt es oft Probleme bei Kindern mit seltenen Erkrankungen, und oft werden die Eltern viel zu wenig unterstützt, um mit den Einschränkungen, die eine Krankheit mit sich bringt, zurechtzukommen. Es gäbe viel zu tun bei Therapien, aber auch in der Aufklärung von Eltern, Kindergartenpädagoginnen und Lehrern.

Standard: Gibt es vorbildhafte Versorgungsmodelle?

Damm: Kinder mit Krebs sind im St.-Anna-Kinderspital bestens versorgt, dort werden die Eltern unterstützt, und Sozialarbeiter helfen weiter. Auch die Epilepsie-ambulanz am AKH in Wien und das Kinderherzzentrum in Linz sind vorbildhaft. Für Kinder mit seltenen Erkrankungen muss es aber mehr spezialisierte Zentren geben, die das beste medizinische Know-how, Erfahrung und internationalen Informationsaustausch haben. Bei uns werden die meisten Eltern alleingelassen, sie recherchieren im Internet, die Quellen dort sind oft unverlässlich.

Standard: Auch was die Forschung anbelangt, kritisieren Sie in der Petition, wird zu wenig gemacht?

Damm: Nahezu alle Medikamente, die es für Kinder gibt, sind für Erwachsene entwickelt worden. Nur: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie haben einen anderen Stoffwechsel, und deshalb können sie nicht einfach nur niedrigere Dosierungen bekommen. Die Medikamente für Kinder müssten deshalb in Studien mit Kindern entwickelt werden. In gewissen Bereichen sind die Medikamente für Kinder gar nicht geprüft. Das ist für Ärzte, die in diesem Bereich arbeiten, eine tägliche Not. Es muss hier geforscht werden, wir brauchen Mittel, und wir müssen Hürden für Studien abbauen.

Standard: Wer blockiert?

Damm: Weite Bereiche der Politik. Wir haben alle Abgeordneten mit diesen Problemen konfrontiert, aber bei den entsprechenden Entschlüssen wurden unsere Forderungen ignoriert. Kinder haben im Gegensatz zu Industrie und Banken keine Lobby und sind deshalb stille Verlierer. Kinderärzte haben sich deshalb entschlossen, initiativ zu werden.

Standard: Was wünschen Sie sich?

Damm: Wir hatten 70 bis 80 Millionen Euro für Kindertherapien gefordert, und die wollen wir immer noch. Wichtig wäre auch, dass sich endlich auch die Ministerien für Kinder zuständig fühlen. Momentan werden solche Angelegenheiten zwischen Hauptverband und den Ministerien für Bildung, Gesundheit, Familie und Soziales hin und her geschoben. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 23.11.2009)