Vor 20 Jahren ist der erste Teil von Art Spiegelmans wegweisendem Holocaust-Comic Maus auf Deutsch erschienen. Wenig später, 1992, erhielt Spiegelman als erster Comic-Autor den Pulitzer-Preis für das vorerst nicht unumstrittene Werk, das in der Form einer Tierallegorie (die Juden sind als Mäuse, die Nazis als Katzen dargestellt) die Geschichte seines Vaters, eines Auschwitzüberlebenden, und seiner Frau erzählt.

Mit Maus hat Spiegelman, der aus der amerikanischen Underground-Comics-Bewegung der 1980er-Jahre kam, keineswegs die erste, wohl aber eine der bekanntesten und verbreitetsten Graphic Novels geschaffen. Vielfach neu aufgelegt, gilt Maus noch heute als Musterbeispiel des im deutschsprachigen Raum nach wie vor etwas stiefmütterlich behandelten Mediums Graphic Novel - wie umfassendere Comic-Geschichten zwischen Buchdeckeln gern genannt werden, um den Nimbus des Kindlich-Naiven, der Comicheften anhaftet, abzustreifen.

Seit Art Spiegelmans Maus hat sich der Ansatz, Geschichte in Form von Bildliteratur zu dokumentieren und damit auf sinnliche, oft sehr persönliche Weise fassbar zu machen, zu einem bedeutenden Comic-Genre entwickelt. Zum Kanon der herausragendsten Comic-Dokumente gehört zweifellos Joe Saccos Palästina. Das knapp 300 Seiten starke Buch liegt nun in einer deutschen Neuauflage vor und hat seit der Erstpublikation 1994 nichts von seiner Wirkung eingebüßt - und auch wenig von seiner Aktualität, dreht es sich doch um bis heute ungelöste Fragen und Traumata des Nahostkonflikts.

Die erste Comic-Reportage

Mit Palästina verband Joe Sacco seine Ausbildung zum Journalisten mit seinem grafischen Talent und gilt seither als Begründer der Comic-Reportage, die der maltesisch-amerikanische Autor unter anderem auch in Safe Area Gorazde, einer gezeichneten Reportage über den Bosnienkrieg, vertieft hat.

Seine Reise Anfang der 90er-Jahre nach Israel und in die besetzten Gebiete Palästinas fasst Sacco in dichte, schwarz-weiße Bilder, die den Leser unvermittelt ins Geschehen reißen und nicht so schnell wieder loslassen. Dabei will Sacco keineswegs verhehlen, dass Objektivität bei seinem Unterfangen - die "ehrliche" Darstellung des Alltags der Palästinenser - ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Das Fehlen von Distanz, das Einnehmen einer Perspektive, ist aber auch der Grund dafür, dass die Lebensumstände der Menschen, die Sacco trifft, so eindringlich sind. Der Autor selbst stellt sich als reichlich unbeholfen dar, oft ratlos, ohne Durchblick, wie auch seine undurchsichtige dicke Brille suggeriert. Umso detailgenauer zeichnet und schraffiert er Bilder der Trostlosigkeit, der Beklemmung, der Auflehnung und Rebellion, die ihm in den Häusern, auf den Straßen, in Flüchtlingslagern und Gefängnissen begegnen.

Trotz der offenkundigen Parteinahme für die Palästinenser kommt Sacco ohne Stereotypen aus und zeigt ebenso den Terror, den die Hamas auf die Palästinenser selbst ausübt, sowie die Entmenschlichung durch die Intifada.

Mit oft banalen Storys eines Ausnahmezustands schafft Palästina, was die wenigsten Medienberichte vermögen: Die Realität des Zyklus von Gewalt, Demütigung und Rache im Nahen Osten ein wenig nachvollziehbarer zu machen.

Notizen aus einer Diktatur

Zeichnerisch Einblicke in Gebiete zu geben, die viele Menschen nur aus spärlichen Medienberichten kennen: Das ist auch die Spezialität des in Frankreich lebenden Kanadiers Guy Delisle - wenn auch in einer leichter verdaulichen Art als bei Joe Sacco. Nach Pjöngjang, einer Comic-Studie aus dem beängstigend absurden Nordkorea, wohin Delisle von einem Trickfilmstudio geschickt wurde, um die dortige Billigproduktion zu beaufsichtigen, und nach Shenzen, das aus demselben Motiv den chinesischen Alltag einzufangen versucht, ist nun Aufzeichnungen aus Birma auf Deutsch erschienen. Darin beschreibt Delisle in einer chronikartig aufgebauten, autobiografischen Erzählung seine Impressionen aus Birma, wo er mit seiner Familie mehr als ein Jahr verbrachte. Während seine Frau für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet, versucht er sich der politischen und sozialen Realität der südostasiatischen Militärdiktatur anzunähern. Das erweist sich besonders am Beginn der Aufzeichnungen als schleppend - zeigt sich Delisle doch vornehmlich als Hausmann und Vater, der den Kinderwagen schiebend durch die Straßen von Rangun schlendert.

Im Lauf der mit klaren Linien gezeichneten Geschichte fügen sich aber die vielen teils skurrilen, teils bedrückenden Episoden und Anekdoten, die Delisle akribisch, informativ und zuweilen mit trockenem Humor zusammenträgt, wie Puzzlesteine zu dem größeren Ganzen eines von Zensur, Armut und Repression geprägten Landes. In seinen sparsamen, kantigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen registriert Delisle zwar so manche feine Dissonanz im System, bleibt aber trotzdem ein zurückhaltender Beobachter.

Mitten im Hurrikan

Viel näher an der klassischen Reportage ist dagegen Josh Neufelds A. D.: New Orleans After the Deluge - vor allem deshalb, weil sich der Autor selbst vollständig aus der Geschichte herausnimmt. Der New Yorker Comic-Zeichner und Illustrator Neufeld arbeitete mehrere Wochen als Freiwilliger des Roten Kreuzes im Katastrophengebiet, das der Hurrikan Katrina im August 2005 hinterlassen hatte.

Aus ausführlichen Interviews mit Betroffenen entstand erst ein Blog und dann ein Webcomic, aus dem nun ein eindrucksvolles Hardcover-Comic hervorging. Die Handlung dreht sich um sieben Personen und ihre Wahrnehmung von Katrina, von den Sturmwarnungen über die Verwüstungen und die darauffolgende Ernüchterung über fehlende Hilfe bis hin zur Situation mehr als zwei Jahre nach den Überschwemmungen.

Aus der schmucklosen Schilderung der Reaktionen der verschiedenen Charaktere erschließen sich unterschiedliche Dimensionen des Hurrikans und seiner Folgen für die Bevölkerung - ohne dabei Gefahr zu laufen, sensationslüstern oder rührselig zu werden.

Dabei geht es für die Sozialarbeiterin Denise, das junge Pärchen Leo und Michelle, den iranischen Ladenbesitzer Abbas und seinen Kumpel, den Pfarrerssohn Kwame und den "Doktor" Brobson aus dem French Quarter ständig um die alles entscheidenden Fragen:Bleiben oder Gehen? Retten, was zu retten ist, oder ganz von vorne beginnen?

Der cartoonhafte, ausdrucksstarke Stil und die kräftige Kolorierung, in der abwechselnd eine Farbe dominiert, mögen auf den ersten Blick unangemessen wirken - doch Neufeld meistert die Gratwanderung mit einer unaufgeregten Leichtigkeit und besticht mit einer lupenreinen Dokumentation, nah an der Realität und an jenen Feinheiten, die keine Kamera einfangen kann.

Pinocchios Albträume

Mit der Bearbeitung einer vermeintlich hinlänglich bekannten Geschichte, nämlich der von Pinocchio, hat sich der französische Comic-Künstler Winshluss alias Vincent Paronnaud in die obersten Sphären des Graphic-Novel-Universums katapultiert. Seine opulente Neuinterpretation des Kinderbuch-Klassikers von Carlo Collodi ist ein visuelles Kaleidoskop, das nicht nur durch stilistische Virtuosität besticht, sondern auch durch die unbändige Energie, mit der es die Grausamkeit des Originals genüsslich auf die Spitze treibt.

Winshluss' Pinocchio ist nicht aus Holz gemacht, sondern ein stählener Roboter, erschaffen von einem geldgierigen und skrupellosen Geppetto. Pinocchio kann zwar gleich zu Beginn seinem ihm zugedachten Schicksal als Killerpuppe entkommen, was ihn aber während der darauffolgenden Odyssee erwartet, ist um nichts besser: Zynismus und Zerstörung beherrschen eine verdorbene Welt.

Die albtraumhafte Reise führt Pinocchio und Geppetto, der ihm auf den Fersen ist, auf verworrenen Wegen durch dunkle Kanäle, die schreckliche Spielzeugfabrik Stromboli, eine von einem despotischen Clown beherrschte Insel und den Schlund eines Riesenfisches. Dabei verwebt Winshluss ver-schiedene Handlungsstränge, Flashbacks und die parallel verlaufende Geschichte der dem Alkohol verfallenen Küchenschabe Jimmy, die es sich in Pinocchios Kopf häuslich gemacht hat, geschickt ineinander. Tuschzeichnungen, koloriert mit kräftigen Farben, wechseln sich mit verwaschenen Bildern, die bis auf die Geschichte von Jimmy ganz ohne Worte auskommen.

In dem penibel durchdesignten Buch, das auf dem renommiertesten internationalen Comic-Festival im französischen Angloulême als "Bestes Album 2009" ausgezeichnet wurde, verdreht Winshluss Walt Disney genauso wie Film noir, Fritz Lang oder den Illustrationsstil früher Cartoons. Respekt hat er dabei vor gar nichts - und das ist auch gut so.

Eine Neubetrachtung des Lebens einer ganz realen historischen Figur haben der Zeichner Christoph Raffetseder und der Autor Herbert Christoph Stöger in ihrem Debüt-Comic Curt Kubin vorgenommen. Eine Fact-Fiction-Biografie nennen die beiden Oberösterreicher ihren Versuch, in das visionäre Denken des Grafikers, Malers und Schriftstellers Alfred Kubin vorzudringen - offenbar in Anspielung auf den Starkult eines Kurt Cobain, dem Sänger von Nirvana, der außer im Titel allerdings keine Rolle spielt.

Wenn Kubin träumt

Anhand von chronologisch angeordneten, traumähnlichen Sequenzen werden kurze Momentaufnahmen aus Kubins Leben gezeigt. So reihen sich reale und erfundene Begegnungen mit anderen Künstlern wie Kafka, mit verschiedenen Frauen, mit Jesus und dem Gauleiter fast beiläufig aneinander - und werden so dem düster-fantastischen Werk Kubins auf ihre eigene Weise gerecht. Und das ist es schließlich auch, was Graphic Novels an sich auszeichnet: Sie können einen buchstäblich anderen Blickwinkel bieten. (Karin Krichmayr, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.11.2009)

  • Joe Sacco, "Palästina" . € 25 / 288 Seiten. Edition Moderne, 2009
  • Guy Delisle, "Aufzeichnungen aus Birma". € 20 / 272 Seiten. Reprodukt, 2009
  • Josh Neufeld, "A.D.: New Orleans after the Deluge" . € 16 / 208 Seiten. Pantheon, 2009
  • Winshluss, "Pinoccio" . € 29,95 / 192 Seiten. Éditions Les Requins
  • Marteaux 2009.Eine deutsche Ausgabe erscheint demnächst im Avant-Verlag
  • Christoph Raffetseder, Herbert Christian Stöger, "Curt Kubin" . € 18 / 68 Seiten. Verlag Bibliothek der Provinz, 2009