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Wen die Fluglinie mehr als drei Stunden lang warten lässt, der hat in Zukunft ein Recht auf Entschädigungszahlungen.

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Seit 2004 soll die Fluggastrechte-Verordnung 261/2004/EG dafür sorgen, dass Passagiere bei Annullierung oder Überbuchung ihres Fluges nicht nur betreut und verköstigt, sondern auch verschuldensunabhängig pauschal entschädigt werden (Art.7 der Fluggastrechte-VO); die Höhe der Entschädigung beträgt je nach Entfernung des Zieles 250, 400 bzw. 600 Euro, für große Verspätungen entsprechend ab zwei, drei bzw. vier Stunden stünden grundsätzlich nur Betreuungsleistungen zu (Art. 9).

In der Praxis stellte sich vielfach die Frage, wann eine Verspätung so groß ist, dass sie zu einer Annullierung führt. Dazu traf der EuGH am 19.November 2009 eine überraschende Entscheidung.

In den beiden verbundenen Verfahren C-402/07 (Sturgeon/Condor) und C-432/07 (Böck und Lepuschitz / Air France) aus Darmstadt bzw. Wien lag bei Flügen von Nordamerika nach Europa eine Verspätung von 22 bzw. 25 Stunden vor. Hier verneint der EuGH dezidiert eine Annullierung (Nichtdurchführung) und verwirft auch die in der Literatur genannten Kriterien - neue Boardkarte, Zusammensetzung der Passagierliste, Inhalt von Anzeigetafeln, Gepäckaushändigung und ebenso eine strikte Zeitgrenze, z.B. 24 Stunden -, da ein Flug trotz Verspätung immer noch durchgeführt werden könnte.

Weiters stellt der EuGH aber fest, dass einander die Folgen einer Annullierung und einer Verspätung - Unannehmlichkeiten und irreversible Schäden infolge des Zeitverlusts - entsprechen und eine unterschiedliche Behandlung der Tatbestände nicht zu rechtfertigen sei.

In der ersten Entscheidung zur Fluggastrechte-VO, der eine Klage der Dachverbände der Fluglinien (IATA) bzw. der Europäischen Billigairlines (ELFAA) zugrunde lag (10.1.2006, C-344/04), hatte der EuGH die VO aus Sicht der Luftbeförderer geprüft und keinen Widerspruch zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen festgestellt.

Gleichheitsgrundsatz verletzt

Generalanwältin Sharpston bezeichnete hingegen in ihren Schlussanträgen zum Fall Sturgeon die differenten Rechtsfolgen von Annullierung und Verspätung als Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und regte an, die Nichtigkeit der VO zu prüfen; eine Möglichkeit, durch ("auch noch so schöpferische") Auslegung zu einem adäquaten Ergebnis zu gelangen, verneinte sie.

Genau eine solche extensive Interpretation aber führt den EuGH zum nun vorliegenden Ergebnis. Passagiere haben im Falle einer Annullierung dennoch keinen Anspruch auf Entschädigung, wenn ihnen ein alternativer Flug angeboten wird, der nicht mehr als eine Stunde vor planmäßigem Abflug startet und mit dem sie ihr Ziel mit maximal zwei Stunden Verspätung erreichen (Art. 5 Abs. 1 lit c sublit iii). Daraus und mithilfe eines Rückgriffs auf Systematik und Ziele der Verordnung (hohes Schutzniveau für Fluggäste), einer primärrechtskonformen Interpretation, des Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit (effet utile) und der Erwägungsgründe der VO leiten die Richter einen Anspruch auf Ausgleichszahlungen auch bei Verspätungen von drei oder mehr Stunden ab. Bleibt die Verspätung allerdings unter vier Stunden, so steht die Entschädigung nur in halber Höhe (Art. 7 Abs. 2 lit c) zu, resultiert die Verspätung aus "außergewöhnlichen Umständen" (Art. 5 Abs. 3), steht überhaupt keine zu.

Unklarheit bei kurzen Flügen

Völlig unklar bleibt, ob diese Zeitgrenze auch für Flüge zu Zielen gilt, die anders als hier weniger als 3500 km vom Abflugort entfernt liegen. Bei Flügen über weniger als 1500 km käme dann eine Halbierung bei bis zu zwei Stunden Verspätung zum Tragen, bei der noch gar keine Entschädigung zusteht; eine volle Entschädigung (250 Euro) aber wäre im Vergleich zu Langstreckenflügen (die Hälfte von 600 Euro) unbotmäßig hoch.

Ein Widerspruch zeigt sich auch durch die undifferenziert hergeleitete Grenze von drei Stunden: Betreuungsleistungen stehen bei Langstrecken über 3500 km bisher erst nach vier Stunden zu (Art. 6 Abs. 1 lit c), Ausgleichsleistungen nun bereits nach drei Stunden.

Die Entscheidung wird wohl von Reisenden begrüßt werden. Sie wirft aber neue Fragen auf und enthält offensichtliche Unstimmigkeiten, die den betroffenen Passagier erneut im Unklaren lassen. Für Fluglinien aus EU-Staaten bringt das Urteil neben finanziellen Belastungen und neuer Rechtsunsicherheit einen weiteren Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Airlines, da Letztere seit dem EuGH-Urteil Schenkel/ Emirates (10. 7. 2008, C-173/07) die Fluggastrechte nur bei Flügen von EU-Flughäfen garantieren müssen, nicht aber bei Flügen von außerhalb in die EU. Fluglinien der Mitgliedsstaaten müssen hingegen ab nun für Flüge sowohl von als auch zu EU-Flughäfen Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Annullierungen, Überbuchungen und Verspätungen erbringen. (Stephan Keiler, DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2009)