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Zur Person

Jan Čarnogurský war Anwalt der Untergrund-Kirche und Mitorganisator der Kerzendemonstrationen. Für die Verteidigung in einem politischen Prozess 1981 wurde er aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und musste als Fahrer arbeiten. Da er später immer wieder als Verteidiger von unschuldig Angeklagten auftrat, wurde er ab 1987 arbeitslos und gab die Untergrundzeitschrift Bratislavske listy heraus. 1989 wurde er wegen "Tätigkeiten gegen den Staat" verurteilt. Später initiierte er die Gründung der christdemokratischen Partei KDH. 1991 bis 1992 führte er die slowakische Regierung, ab 1998 war er Justizminister. 2002 zog sich Čarnogurský aus der Politik zurück und arbeitet seitdem als Rechtsanwalt in Bratislava.

Foto: epa/Ostrowska

1989 habe weder die kommunistische Führung noch die Opposition einschätzen können, wie der andere im Fall einer Auseinandersetzung reagieren würde, sagt der ehemalige slowakische Premier Ján Čarnogurský zu Lýdia Kokavcová.

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STANDARD: Sie sind 1989 direkt aus dem Gefängnis in die Regierung gekommen. Hatten Sie gehofft, dass Sie früher freikommen?

Čarnogurský: Natürlich. Ich habe mir eingebildet, dass mich das Regime nicht verhaften kann. Trotzdem passierte es. Als ich ungefähr zwei Wochen im Gefängnis saß, kam in Polen die Mazowiecki-Regierung an die Macht. Und die ganze Zeit wurden Ostdeutsche in unser Gefängnis gebracht, die von der Slowakei nach Ungarn geflüchtet waren. Wenn wir im Gefängnishof Deutsch hörten, wussten wir also, worum es ging.

STANDARD: Haben Sie erwartet, dass Sie Teil der ersten nichtkommunistischen Regierung sein werden?

Čarnogurský: Der Widerstand in Prag war vor allem durch die bürgerliche Bewegung Charta 77 geprägt, das war die Intelligenz der Stadt, ausgeschlossene Kommunisten und Christen. In der Slowakei kam der Widerstand vor allem aus der christlichen Ecke, es gab nicht viele politisch orientierte Gegner des Kommunismus. Ich hingegen war Anwalt und aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Mich interessierte der politische Widerstand. Am dritten Tag nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis, verhandelte ich mit Václav Havel und anderen über die Machtübernahme mit den Kommunisten.

STANDARD: Inwiefern war es notwendig, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten?

Čarnogurský: Weder die Kommunisten, noch die Opposition wusste, wie stark der jeweils andere im Fall einer Auseinandersetzung sein würde. Die Kommunisten verfügten über die bewaffnete Landwehr, eine unserer ersten Forderungen war es, diese zu entwaffnen. Havel verhandelte dann mit dem Verteidigungsminister, damit die Armee neutral blieb. Wir verhandelten, dass die Opposition in der Regierung einen Platz mehr als die Kommunisten hatte. Und es gab ungeschriebene Regeln. Ab dem Zweiten Weltkrieg galt etwa , dass der Regierungschef, wenn der Präsident ein Tscheche ist, ein Slowake sein muss und umgekehrt. Und wenn der Präsident ein Tscheche und Nicht-Kommunist war, musste der Regierungschef Slowake und Kommunist sein.

STANDARD: Sollte damalige kommunistische Regierungschef Marián Calfa der Opposition beibringen, wie man das Land regiert?

Čarnogurský: Eines ist sicher: Calfa sicherte die Wahl von Havel zum Präsidenten. Das Parlament war ja mehrheitlich kommunistisch. Und er garantierte, dass eine gewisse Kontinuität in der Regierungsarbeit. Die erste Regierung hatte noch eine kommunistische Struktur: Es gab ein Ministerium für Brennstoff und Energetik, ein Ministerium für Außenhandel, ein Ministerium für Innenhandel und ein Ministerium für allgemeinen Maschinenbau. Schlüsselressorts wie das Innen-, Finanz und Arbeitsministerium hatte die Opposition in Händen.

STANDARD: Die neue Regierung wurde in Dezember 1990 noch vom kommunistischen Präsidenten, Gustáv Husák ernannt.

Čarnogurský: Ich war der erste Vizeregierungschef. Und Husák sagte plötzlich zu mir, er ließe mich nicht einsperren. Und das glaube ich ihm auch. Er kannte meinen Vater sehr gut – in seiner Jugendzeit war mein Vater in der christlichen Jugendorganisation und Husák in der kommunistischen. An einem Tag tranken sie Wein zusammen, am nächsten stritten sie.

STANDARD: Wie reagierte das Ausland auf die neue Regierung?

Čarnogurský: Uns wurde überall die Tür geöffnet. Zuerst kamen Delegationen nach Prag, um herauszufinden, wer die Macht im Land übernommen hatte. Aus Österreich kam zuerst Erhard Busek und dann natürlich auch Alois Mock, der Außenminister. Ich fühlte mich viel freier als meine Kollegen im Ausland. Zu mir konnte beinahe jeder zu Besuch kommen, er musste sich nur beim Pförtner anmelden. Es war eine Zeit voll von Euphorie und Visionen. Wir dachten, uns gehört die ganze Welt.

STANDARD: Fühlten Sie sich auch benachteiligt gegenüber dem Westen?

Čarnogurský: Wir gingen ins Ausland, um das westliche System zu übernehmen. Wir überlegten immer: Könnte so etwas auch für uns passen, wäre es uns nützlich? Man weiß ja, wie nahe die österreichische Grenze zum Zentrum von Bratislava ist. Ich bin in Bratislava geboren. Und diese Grenze überschritt ich zum ersten Mal im Januar 1990, als ich 46 Jahre alt wurde.

STANDARD: Vladimír Meciar war der erste Regierungschef der Slowakei, er spaltete die Gesellschaft.

Čarnogurský: Meciar illustriert die damalige Zeit sehr gut. Es gab keine Leute, die im Kommunismus an die politische Wende dachten und sie auch verwirklichen wollten. Tatsächlich aber beherrschte Meciar die ganze Problematik des Innenministeriums. Er war reisserisch und er wusste, wie man die Leute in einer Sprache ansprach, die sie verstanden. Bis zu den Wahlen 1990 wurde er zum beliebtesten Politiker der Opposition, beinahe 80 Prozent der Bevölkerung unterstützten ihn. Meciar war sehr selbstbewusst: im April 1990 sagte er etwa, die Kommunisten sollen nicht zu hoch springen, denn die Gefängnisse seien leer. Die Mehrheit der Opposition stand hinter ihm, weil sie sahen, dass er ihre Teilhabe an der Macht sichern konnte. Und das war auch lange Zeit so.

STANDARD: War es die Kombination von Kommunikationsfähigkeit und einem bestimmten Maß an Intellekt?

Čarnogurský: Sicherlich. Ich war in seiner ersten Regierung. Er kannte oft das zur Regierungssitzung vorgelegte Material besser als der Minister, der es vorlegte. Er fragte ganz genau: Auf der Seite XY schreiben Sie das und das, wie kann man das verstehen? Was ihm aber fehlte, war menschliche Seriosität und eine historische Grundlage. Er war sich nicht bewusst, dass alles, was sich im Staat abspielt, durch die Vergangenheit geprägt ist und sich in der Zukunft fortsetzt. Wenn Komplikationen rund um die Föderation auftraten, erklärte er: Wenn die Tschechen die Föderation nicht wollen, werden wir sie dazu zwingen. So läuft es aber nicht.

STANDARD: Sind Sie 20 Jahre danach mit der Slowakei zufrieden?

Čarnogurský: Die Slowakei ist EU-Mitglied, das wollten wir, die Slowakei ist selbständig, das wollten wir auch. Das haben wir nicht durch Hilfe aus dem Ausland, sondern durch eigene innere Kräfte erreicht. Es kamen ja keine Delegationen oder Geld aus dem Ausland wie etwa nach Kiew während der Orangen Revolution. Die Slowakei hat auch große wirtschaftliche Unterschiede ziemlich erfolgreich überwunden. Im Kommunismus war hier die Waffenindustrie konzentriert und viele Branchen waren von ihr abhängig. Die ersten fünf Jahre diskutierte man nur darüber, wie man diese Industrie zu einer Friedensindustrie verwandeln konnte. Das ist gelungen. Wir sind heute der pro Kopf größte Autohersteller der Welt. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2009 erschienen Interviews)