Von allen sowjetischen Filmavantgardisten war Dziga Vertov derjenige mit dem höchsten Modernitätsversprechen. Kino verstand er als das geeignete Mittel, um einem neuen Weltbild Ausdruck zu verleihen. Der Mann mit der Kamera, sein berühmtester Film, ist eine Hymne an das technische Auge. Die analytische Kraft seiner Arbeiten, die die Welt in kleinste Bildeinheiten zerlegen, um sie neu zusammenzusetzen, macht ihn bis heute zu einem Fixstern, wenn es um das Potenzial von Film geht.
Das vom Wiener Wissenschaftsfonds (WWTF) geförderte Projekt Digital Formalism - The Vienna Vertov Collection vereinte drei Institutionen, um neue Wege der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Filmemacher zu erschließen - ausgehend von der größten Vertov-Sammlung außerhalb Russlands, über die das Filmmuseum verfügt. Klemens Gruber und Andrea Braidt vom Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, die das Projekt koordinierten, ging es um einen Brückenschlag ins digitale Zeitalter, um das "handwerklich Digitale", das schon in Vertovs Zugriff auf die Wirklichkeit zu entdecken ist.
Am Institut für Software Technology und Interactive Systems der TU lautete die Aufgabenstellung für Christian Breiteneder, mithilfe von "content-based retrieval" ein spezifisches Suchprogramm zu entwickeln, um Filme nach formalen und inhaltlichen Eigenschaften zu durchforsten. "Uns war bald bewusst, dass wir es mit ungewöhnlichem Material zu tun hatten", erzählt Breiteneder - der technische Zustand des Zelluloids erwies sich für Wissenschafter, die saubere digitale Bilder gewöhnt sind, als harter Brocken.
Ein Verfahren, mit dem nach Schnittmustern, bildkompositorischen Eigenheiten oder Bewegungsmerkmalen per Computer gesucht werden kann, hilft, den mühsamen Weg der händischen Annotationen von Filmen am Schneidetisch zu verkürzen - oder gar zu ersetzen. In der ersten Phase ging es freilich zunächst einmal darum, herauszufinden, wie effizient eine solche Suche im Vergleich läuft.
Die Ergebnisse lassen sich vielfältig anwenden: Vertovs feingliedrige Montagearbeit wird gewissermaßen entzaubert - man erhält Einblick in die Schnittwerkstatt, in seine "Kinothek". Der Filmemacher verwendete manche "shots" etwa nicht nur mehrmals in einem Film, sondern manchmal auch in unterschiedlichen Arbeiten; mithilfe der Software lässt sich nun der ursprüngliche "shot" wiederherstellen und mit seinen Schnittlisten vergleichen.
Verschollenes Ende
Die Anwendungen sind auch in Beiträgen einer neu erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Maske & Kothurn nachzulesen. Oder demnächst auf einer Doppel-DVD zu studieren, die sich mit der Vertov'schen Systematik befasst. Neben Vertovs Filmen Sestaja cast' mira / Ein Sechstel der Erde (1926) und Odinnadcatyj / Das Elfte Jahr (1928) - Letzterer wurde mit einem neuen, raffinierten Soundtrack des britischen Komponisten Michael Nyman versehen - wird auf der DVD auch die sogenannte Affäre Blum dokumentiert, ein interessanter Fall von Bilderklau aus der Jugendzeit des Kinos. Der kommunistische Aktivist Albrecht Viktor Blum hatte für seinen (kapitalismuskritischen) Kompilationsfilm Im Schatten der Maschine Ausschnitte aus ukrainischen Filmen, darunter auch von Odinnadcatyj (wohlgemerkt: ein enthusiastischer Film über die Elektrifizierung) verwendet - zum großen Ärger Vertovs, der sich darüber in deutschen Zeitungen empörte.
Was damals als frecher Griff ins fremde Werk galt, wird heute zum Fundstück: Mithilfe der neu entwickelten automatischen Shot-Erkennung wurde das übereinstimmende Material beider Filme überprüft. Dabei ließ sich rekonstruieren, welche Teile von Vertovs Film Blum verwendet hat; Georg Wasner und Michael Loebenstein machten überdies die Entdeckung, dass es sich beim Ende von Im Schatten der Maschine um Teile des verschollenen Finales von Odinnadcatyj handeln könnte. Im furiosen Montagefeuer führt Vertov hier noch einmal alle Schauplätze des Films zusammen. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2009)