Bildung krepiert, weil Scheiße regiert" . Das ist eine der Parolen, die während des so genannten Bildungsstreiks von Demonstranten gerufen werden. Die Mehrzahl der Plakate und Spruchbänder, der Kundgebungsbeiträge und Demonstrationsaufrufe ist nicht viel schlauer, in Deutschland wie in Österreich.

Das Schöne an der "Scheiße" , die regiert, ist ja, dass sie auch systemkritische Demonstrationen erlaubt. Aber indem er grundsätzliche ideologische Opposition als Kampf für ein besseres Bildungssystem verkleidet, entwertet sich der Aufstand der Studenten und Schüler selbst. Denn da, wo die Kritik konkret wird, haben sie ja recht. Die Universitäten sind überfüllt. Vielerorts ist die Bausubstanz marode und der Personalstand ausgedünnt. Die Reform der Diplom- und Magisterstudiengänge zu Bachelor und Master läuft an vielen deutschen Hochschulen offenbar mehr schlecht als recht. Darüber hinaus knausert der Staat erstens beim BAföG und kommt zweitens seinem Anspruch, Studiengebühren mit einem sinnvollen Hilfs- und Stipendienprogramm zu ergänzen, eher schleppend nach. All dies sind Probleme, die kein vernünftiger Mensch leugnen kann.

Unglücklicherweise ist beim Studentenprotest von solchen handfesten Problemen aber wenig zu hören und zu lesen. Stattdessen gibt's Propaganda-Prosa von links außen. Gebührenfrei soll Bildung sein. Schuldenfrei. Leistungsdruckfrei. Zeitdruckfrei. Selbstbestimmt. Solidarisch. Humanistisch. Emanzipatorisch gar. Und natürlich von jeder Form von ökonomischen Interessen gesäubert. All das wird hinter Bannern linker Splittergruppen zusammengegossen in dem Spruch "Bildung ist keine Ware" .

Ideologie statt Empirie

Aber was ist Bildung, abgesehen davon, was sie "nicht" ist? Wozu ist sie da? Der Entwurf der Studentenverbände ist ziemlich hohl. Bildung soll beispielsweise emanzipatorisch sein, also frei machend. Aber was heißt das konkret? Es hat offenbar nicht gereicht, die deutsche Sprache von der Rechtschreibung zu befreien. Jetzt befreien wir noch die Architektur von der Statik und die Mathematik von der Logik. Denn nur so kann man den Anspruch aus der Welt schaffen, dass Bildung etwas mit Lernen - und damit mit Fleiß und Leistung - zu tun hat. Mit Leistung, die messbar sein muss - warum sollte die Gesellschaft sonst in Bildung investieren? Denn auch die Tatsache, dass Bildung etwas kostet und dass irgendjemand zur Deckung dieser Kosten bereit sein muss, dürfte unwiderlegbar sein, egal wie viele Begriffe aus dem Wörterbuch des Wohlstands-Antikapitalismus man dafür bemüht.

So wie der Strom nur scheinbar aus der Steckdose kommt, so kommt das Geld nicht einfach so vom Staat. Die Vermögenden und die Banken, die der Studentenprotest lustvoll gegen die Bildung ausspielt, sind es zum Beispiel, die dem Staat das Geld leihen, mit dem er Bildung für alle finanziert. Und das funktioniert, alles in allem, ziemlich gut. Die Diskrepanz zwischen Ideologie und Empirie bei den Studentenprotesten ist insofern frappierend - aber Zahlen und Fakten gelten einem emanzipatorischen Bildungssystem vermutlich als Ausdruck verabscheuungswürdiger Ökonomisierung. In derselben Woche, in der Studentenvertreter behaupten, nur Kinder von Reichen könnten sich ein Hochschulstudium leisten, meldet das Land Nordrhein-Westfalen einen neuen Immatrikulationsrekord. Und das, obwohl junge Menschen ein Schulsystem durchlaufen, dem im offiziellen Aufruf zum Bildungsstreik nicht weniger als "soziale Selektion" vorgeworfen wird.

Diese schwappt, wenn man den Protest-Texten glauben kann, wegen der Studiengebühren jetzt an die Hochschulen. 7.000 Euro koste in Nordrhein-Westfalen ein zehn Semester langes Studium, "bezahlt mit Papas Kreditkarte" , rechnete eine Studentin in Köln empört. Die Zahl ist interessant, weil sie ungewollt die Anti-Studiengebühren-Rhetorik der Studentenverbände entlarvt. 7.000 Euro Gebühren für ein Hochschulstudium decken gerade mal ein einziges Brutto-Monatsgehalt eines einzigen ordentlichen Professors gegen Ende seiner Laufbahn. Monatlich betragen die Studiengebühren in NRW umgerechnet rund 85 Euro. Das ist weniger als deutsche Jugendliche im Durchschnitt monatlich über ihr Taschengeld ansparen. Das Kindergeld, das der Staat in einem Monat pro Kind ausschüttet, beträgt mindestens 164 Euro.

Überdies: 64 Prozent aller jungen Erwachsenen in Deutschland beginnen gar kein Studium. Das heißt, die Allgemeinheit der Steuerzahler finanziert einer Minderheit, die mehrheitlich aus eher gebildeten und besser verdienenden Elternhäusern kommt, eine Ausbildung, die am Ende im Schnitt wiederum zu besseren Jobs mit einem höheren Einkommen führt - unterm Strich eine solidarische Transferleistung. Wenn aber die Studenten (oder deren Eltern oder der Staat als Kreditgeber) auch nur mit einer symbolischen Summe an ihr beteiligt werden sollen, dann sehen die organisierten Studenten darin bereits die Vernichtung der humanistischen Bildung, ja sogar der allgemeinen Menschenrechte durch neoliberale Verwertungsinteressen am Horizont aufziehen. Denselben Leuten, die den hohen Wert von Bildung propagieren, ist ein Hochschulstudium nicht mal 7000 selbstgezahlte Euro wert.

Wer die soziale Frage als solche ernst nimmt, wundert sich auch, warum die Studentenvertreter nicht eine sozial gestaffelte Studiengebühr fordern, statt zu behaupten, es sei ein Ausdruck emanzipatorischer Bildung, dass die Kinder von Millionären ohne Zeit- und Leistungsdruck kostenlos an öffentlich finanzierten Universitäten studieren dürfen.

Selbstbetrug und Agonie

Es sind die ideologischen Taschenspielertricks, die dafür sorgen, dass der Protest so seltsam zweigeteilt ist. Einerseits wird so getan, als sei die Misere so extrem, dass jeder aufstehen und sie bekämpfen muss - weswegen es von Medien bis Politik beinahe 100 Prozent Zustimmung für die Demonstrationen gibt. Andererseits aber halten die Teilnehmerzahlen dem Anspruch nicht stand. Wenn man die Schüler herausrechnet, engagiert sich nur ein winziger - oft ohnehin bereits gesellschaftskritisch organisierter - Bruchteil der Studenten am "Bildungsstreik" . Denn es geht dabei weniger um Schulen und Universitäten als darum, dem organisierten antikapitalistischen Protest unter Schülern und Studenten eine neue Plattform zu geben, während gerade mal keine Nato- oder G-8-Gipfel ansteht. Viele Studenten spüren das und flüchten in politische Agonie. Das ist, nebenbei bemerkt, auch keine Lösung. (Tobias Kaufmann/DER STANDARD-Printausgabe, 26. November 2009)