Ionenstrahlen zerstören maligne Zellen punktgenau, die Umgebung bleibt intakt.

Foto: Standard/Matthias Cremer

 

Mehr als vier Jahre Bauzeit und rund 119 Millionen Euro Gesamtkosten, aber das Wichtigste bleibt verborgen: Das Herzstück des Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrums (HIT), ein kreisförmiger Teilchenbeschleuniger, liegt unter einem künstlichen, mit Gras bewachsenen Hügel. Trotz eleganter umringender Architektur würde hier wohl niemand die weltweit modernste Einrichtung für Krebstherapie vermuten. Ihre offizielle Eröffnung fand Anfang November statt. Der Mediziner Jürgen Debus und der Physiker Thomas Haberer leiten das Projekt gemeinsam - das HIT ist interdisziplinäre Wissenschaft in Reinkultur.

Großes Einzugsgebiet

An 330 Tagen im Jahr soll die Anlage rund um die Uhr in Betrieb sein, die restliche Zeit ist für Wartungsarbeiten vorgesehen. Die Anzahl der behandelten Patienten wird jährlich bei etwa 1300 Personen liegen, und sie kommen natürlich nicht nur aus Deutschland. Längst arbeiten Tumorbekämpfungsexperten international zusammen. Auch die österreichischen Kollegen, erklärt Jürgen Debus gegenüber dem Standard, sind im europäischen Ionenstrahltherapie-Projekt ULICE mit eingebunden. Patienten können bei Bedarf nach Heidelberg weitergereicht werden. Ihr betreuender Arzt kommt gegebenenfalls mit, um sich im HIT mit neuen Techniken vertraut zu machen.

Die Schwerionentherapie, so Jürgen Debus, sei allerdings "keine Wunderwaffe". "Sie ergänzt die konventionelle Strahlentherapie in besonders komplizierten Fällen." Das HIT ermöglicht als erste Anlage weltweit auch den kombinierten Einsatz von schweren und leichten Ionen. "So können wir Therapien maßschneidern", ergänzt Thomas Haberer. Darüber hinaus verfügt das Zentrum über einen sogenannten Gantry, eine um 360° rotierbare Strahlenkanone für Schwerionen. Das Gerät wiegt 670 Tonnen und ist ebenfalls eine Weltpremiere. Es erlaubt den Beschuss von Krebsgeschwüren aus mehreren Richtungen, während der Patient in der gleichen Position liegen bleibt. So verschiebt sich kein Gewebe, die Zielgenauigkeit bleibt optimal.

Ionen sind atomare Teilchen mit positiver oder negativer elektronischer Ladung. Als Leichtionen gelten in erster Linie Wasserstoffkerne, die schlicht aus einem einzigen Proton bestehen. Im HIT kommen auch Kohlenstoff- und Sauerstoff-Ionen zum Einsatz. Sie sind viel größer und schwerer und haben andere strahlenbiologische Eigenschaften als die leichten Partikel. Um diese zu nutzen, werden die Ionen stufenweise auf 75 Prozent Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Ihre Reichweite liegt dann bei circa 30 Zentimeter, im Wasser wie im menschlichen Gewebe.

Die besonders zielgenaue Wirkung der Schwerionentherapie beruht auf einem speziellen physikalischen Effekt. Nachdem die beschleunigten Teilchen im Körper des Patienten eingedrungen sind, durchqueren sie zunächst gesundes Gewebe. Auf diesem Weg werden die Ionen zwar gebremst, doch es wird dabei nur wenig Energie freigesetzt. Kurz vor dem Stillstand entfalten die geladenen Atome aber schlagartig ihre volle Zerstörungskraft. Sie treten mit Elektronen der DNA im Inneren der Tumorzellen in Wechselwirkung, zerreißen dabei Bindungen und zertrümmern so molekulare Strukturen. Die Schwerionen funktionieren praktisch wie Geschoße mit verzögerter Zündung. Fachleute bezeichnen dieses Phänomen als "Bragg-Peak", benannt nach dem englischen Nobelpreisträger William Henry Bragg.

Den verheerenden Schwerionenbeschuss setzen Mediziner zur Bekämpfung von soliden Geschwüren mit hoher Strahlungsresistenz ein. Besonders geeignet ist die Methode zur Behandlung von Chordomen und Chondrosarkomen an der Schädelbasis, Tumoren, die dem Knochen bzw. dem Knorpelgewebe entstammen. Die Präzision der HIT-Apparatur ermöglicht deren punktgenaue Bestrahlung, ohne die empfindlichen Neuronen des Gehirns oder die nahen Sehnerven zu gefährden.

Beschuss-Plan

Haben sich Tumorzellen bereits im angrenzenden, noch gesunden Gewebe ausgebreitet, wenden die Heidelberger Experten eine Kombinationstherapie mit Leichtionen oder Gammastrahlen an. Diese streuen ihre Energie zwar viel stärker, doch die sich krankhaft teilenden Krebszellen sind weniger resistent als ihre ebenfalls getroffenen, normalen Nachbarn. Das Zentrum des Tumors wird anschließend mit schweren Kernen bombardiert.

Die Nebenwirkungen der Therapie bleiben auch aus einem anderen Grund gering. Die Anzahl der eingesetzten Schwerionen ist zählbar, sie beläuft sich bei Kohlenstoff auf 10^8 Teilchen pro Sitzung, was weniger als einem Ion pro Tumorzelle entspricht - eine minimale Menge. "Das ist weniger als Homöopathie, so etwas gibt es in keinem anderen Verfahren", betont Jürgen Debus. Dementsprechend hat die am Ende der Prozedur als Kohlenstoff-Atome im Gewebe verbleibende Materie keine weitere Wirkung. Fast als wäre nichts gewesen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD Printausgabe, 30.11.2009)