Charlotte Knobloch, geboren am 29. Oktober 1932 in München, ist Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses sowie Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses.

Foto: Israelitische Kultusgemeinde

Mehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wollten Deutschland und Israel zum ersten Mal in Berlin eine gemeinsame Kabinettssitzung abhalten. Geplant war dieses Treffen für vergangenen Montag. Wegen einer Erkrankung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurden die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen auf Anfang 2010 verschoben. Mit dem Treffen wollten beide Regierungen ein weiteres Zeichen der Versöhnung setzen. Bislang hatte es erst eine gemeinsame Kabinettssitzung gegeben, die am Rande eines Israel-Besuchs von Kanzlerin Merkel im März 2008 in Jerusalem stattfand. Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, im E-Mail-Interview darüber, was von Bundeskanzlerin Angela Merkels Knesset-Ansprache im März 2008 übrig geblieben ist, dass "in Deutschland wie in anderen Ländern ein latenter Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft vorhanden ist" und was sie zu Henryk M. Broders Verbalangriffen sagt. Die Fragen stellte Anna Giulia Fink.

derStandard.at: Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigt in wenigen Feldern der internationalen Politik so viel Emotion wie in der Freundschaft zu Israel. Inwiefern kann es in den Beziehungen zu Israel Normalität geben?

Charlotte Knobloch: Angela Merkel genießt in Israel ein hohes Ansehen sowohl in der Politik als auch innerhalb der Bevölkerung. Ihre Ansprache in der Knesset im März 2008 ist in den Köpfen der Menschen noch heute präsent. Und ihre spürbare, als sehr ehrlich empfundene Verbundenheit mit dem jüdischen Staat hat das Bild Deutschlands in der israelischen Öffentlichkeit nachhaltig beeinflusst. Frau Merkel hat das vertrauensvolle Verhältnis beider Staaten gefestigt und ausgebaut.

derStandard.at: Erzwingt Deutschlands Verantwortung in der Politik Zurückhaltung oder verpflichtet sie zu Offenheit?

Charlotte Knobloch: Deutschlands Verantwortung gegenüber Israel beinhaltet ein klares Bekenntnis zum Existenzrecht des jüdischen Staates und eine unverbrüchliche Solidarität gerade in schwierigen Zeiten. In einzelnen Sachfragen kann es zwischen Staaten und auch innerhalb der Staaten selbst unterschiedliche Positionen geben. Pluralismus ist das Wesen von Demokratien. Selbstverständlich sind auch sachliche Anmerkungen und Kritik erlaubt – solange sie angemessen, konstruktiv und zielführend formuliert sind und solange sie nicht den politischen Gesamtkontext der Region und die Komplexität des Konflikts außer Acht lassen. Intellektuell redliche und sachliche Kritik von Freunden ist in Israel noch nie ein Problem gewesen.

derStandard.at: Außenminister Guido Westerwelle ist Ende November zu seinem Antrittsbesuch nach Israel und in das palästinensische Autonomiegebiet gereist. Generalsekretär Stephan Kramer hat gesagt, dass der Antisemitismusstreit von 2002 und die Affäre um Jürgen Möllemann in Israel nicht vergessen seien. Inwiefern gibt es Ihrer Meinung nach noch eine Hypothek bei Westerwelle und den Liberalen?

Charlotte Knobloch: Ich habe den Bundesaußenminister auf seiner Israel-Reise begleitet. In Yad Vashem zeigte er sich tief bewegt. Eine aufrichtige Verbundenheit mit dem jüdischen Staat – auch aufgrund der Vergangenheit – war deutlich zu spüren. In der Außenpolitik ist also mit Kontinuität zu rechnen. Positiv sind auch die jüngsten Absichtserklärungen von Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel, der eng mit Israel zusammenarbeiten will.

derStandard.at: Die Vertretung der Juden in Deutschland sei in einem "erbärmlichen Zustand", Sie seien als Präsidentin überfordert, Ihre Stellvertreter belauerten sich gegenseitig, wettert der Publizist Henryk M. Broder. Dem Zentralrat der Juden geht es nicht gut, treten seine Vertreter öffentlich auf, wird es manchmal peinlich, schreibt die Süddeutsche Zeitung als Reaktion auf Broders Verbalangriffe. Fühlen Sie sich überfordert?

Charlotte Knobloch: Von vielen Menschen in Deutschland und weltweit erfahre ich großen Zuspruch für meine ehrenamtliche Tätigkeit als Präsidentin. Auch Herr Broder war bei einer kurzen Begegnung unlängst voll des Lobes. Umso verwunderlicher waren seine darauffolgenden öffentlichen Aussagen, die ich gelassen zur Kenntnis genommen habe. Grundsätzlich kann Kritik auch positiv wirken, solange sie sachlich und adäquat formuliert ist und der Respekt voreinander gewahrt bleibt. Als Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland muss ich sowohl das Große und Ganze im Auge haben als mich auch unzähligen Detailfragen widmen. Das erfordert Augenmaß, Weitsicht und vor allem einen langen Atem. Das ist manchen, die dieses Amt und seine Inhaber beurteilen, vielleicht nicht immer ganz bewusst.

derStandard.at: Das Gremium ist die oberste politische Vertretung der 23 jüdischen Landesverbände mit 107 Gemeinden und 120.000 Mitgliedern; es vereint orthodoxe, konservative und liberale Juden. Kann man da überhaupt noch mit einer Stimme sprechen?

Charlotte Knobloch: In einer Demokratie wäre es vermessen zu glauben, dass man mit einer Stimme sprechen kann. Nehmen Sie zum Beispiel die politischen Parteien: Kann die ÖVP mit einer Stimme sprechen? Kann die SPÖ mit einer Stimme sprechen? Die Herausforderung des Zentralrats ist, die unterschiedlichsten Strömungen innerhalb des Judentums unter einem Dach zu vereinen und im weitesten Sinne allen gerecht zu werden. Hierzu sind die Bereitschaft aufeinander zuzugehen und die Fähigkeit zum übergeordneten Konsens über alle Partikularinteressen hinweg vonnöten. Im Zentralrat gibt es zwar verschiedene Meinungen über Einzelfragen, aber eine Übereinstimmung in der wesentlichen politischen Ausrichtung – ähnlich einer großen Partei. Der Erfolg der vergangenen Jahre gibt der Institution hier Recht.

derStandard.at: Generalsekretär Stephan Kramer hat Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin in eine Reihe mit Göring, Goebbels und Hitler gestellt – um sich bald darauf demütig zu entschuldigen. Sind das äußere Zeichen innerer Verunsicherung und Hilflosigkeit?

Charlotte Knobloch: Herr Kramer hat seine Aussage öffentlich bedauert und zurückgenommen. Mit innerer Verunsicherung oder gar Hilflosigkeit hat das allerdings nichts zu tun.

derStandard.at: Das Judentum in Deutschland steckt im Generationen- und Mentalitätenwechsel. In Deutschland leben rund 200.000 Juden. Viele von ihnen sind nach dem Ende des Kommunismus aus Osteuropa zugewandert. Gehen ihre Nachkommen unter in der Mehrheit der Zuwanderer aus Osteuropa?

Charlotte Knobloch: Die Zuwanderer sind eine Bereicherung für unsere Gemeinschaft. Ohne sie hätten in den vergangenen Jahren nicht so viele neue Synagogen und Gemeindezentren eröffnet werden können. Daher überwiegen die Chancen die Herausforderungen. Erfolgreich können wir allerdings nur dann sein, wenn sich alle Seiten aktiv einbringen und trotz aller Unterschiede weiter zusammenwachsen. Als Minderheit können wir in diesem Land nur etwas bewegen, wenn wir mit vereinten Kräften in die Zukunft blicken. Das sollte allen bewusst sein – unabhängig vom Alter, der Herkunft und der religiösen Ausrichtung.

derStandard.at: "Juden fühlen sich in Deutschland zunehmend zu Hause", sagte Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats, und verwies als Beispiel auf die Identifikation jüngerer Juden in Deutschland mit der Fußball-Nationalmannschaft. So habe beispielsweise die erste Generation der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg immer gehofft, dass die deutsche Mannschaft verliert. Überspitzt formuliert: Könnte man sich da nicht die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Zentralrats stellen, dessen Aufgabe es ist, Juden zu integrieren?

Charlotte Knobloch: Der Zentralrat ist eine Interessensvertretung für die jüdische Gemeinschaft und wird sich den Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft stellen wie der Integration der Zuwanderer, der Verständigung zwischen Juden und Nichtjuden und vielem mehr. Eine positive Entwicklung wie das steigende Zugehörigkeitsgefühl jüdischer Bürger in Deutschland ist doch als Erfolg zu werten und macht keineswegs eine Institution wie den Zentralrat überflüssig. Außerdem gibt es noch vieles, was angegangen werden muss. Leider lassen sich der Rechtsextremismus und der latente Antisemitismus – auch in linken und linksextremen Kreisen – nicht wegdiskutieren. Der Zentralrat sieht sich hier als Frühwarnsystem, um auf Fehlentwicklungen hinzuweisen.

derStandard.at: "Ich gebe zu, wir sind tatsächlich manchmal wie die Gänse auf dem Kapitol. Wir schnattern, wenn wir glauben, dass was los ist. Und manchmal schnattern wir vielleicht einmal zu viel", sagte Korn auch. Besteht hier die Gefahr einer Inflationierung?

Charlotte Knobloch: Dieses Zitat kann aus dem Kontext gerissen missverständen werden. Herr Korn hat in dem Interview die Instrumentalisierung des Zentralrats für unbequeme Moralthemen beklagt und den Wunsch geäußert, dass die Medien auch andere Institutionen bei gesellschaftlich relevanten Themen kontaktieren sollten. Medien fragen in der Regel zunächst beim Zentralrat an, wenn es zum Beispiel um rechtsextreme Straftaten geht. Dabei ist das ein Thema, das doch wirklich alle, die an einem Fortbestand einer freien und demokratischen Gesellschaft interessiert sind, angehen sollte.

derStandard.at: Kramer fordert stärkere Gegenmaßnahmen gegen Antisemitismus? Wo sehen Sie die Gefahr und wie soll dagegen angekämpft werden?

Charlotte Knobloch: Der Zentralrat macht seit langem darauf aufmerksam, dass in Deutschland wie in anderen Ländern ein latenter Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft vorhanden ist. Stammtischparolen, Schmähbriefe, die in den Gemeinden eingehen, oder der Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israelkritik sind nur die Spitze des Eisbergs. Im Kampf gegen den Antisemitismus ist Aufklärung im Geiste der Demokratie ein zentraler Schlüssel zum Erfolg. Letztlich ist jeder Einzelne gefordert, tagtäglich dem Antisemitismus im Alltag zu widersprechen und dadurch zu einer toleranteren Welt beizutragen. Das Problem kann nicht auf die Politik und Expertengremien abgeschoben werden. Das ist die Aufgabe eines jeden, der sich eine freie und pluralistische Gesellschaft wünscht. (derStandard.at, 3.12.2009)