"Wir müssen die Leute dazu bringen, nicht wegzuschauen", sagt der Mediziner Siegfried Meryn, der die Initiative "Nein zu Arm und Krank" ins Leben gerufen hat. Denn auch in einem reichen Land wie Österreich, in dem das Gesundheitssystem funktioniere, fallen Menschen durch das System. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise werden sich 2010 verstärkt zeigen - und besonders Armutsgefährdete treffen, sagte Meryn im Gespräch mit Anita Zielina.
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derStandard.at: Ist Gesundheit in Österreich ein Privileg der Gut- und Besserverdiener?
Meryn: Prinzipiell nein. Ich glaube, dass wir in Österreich ein ausgezeichnet funktionierendes Gesundheitssystem haben.
Und dennoch ist es so, dass es bei uns immer mehr Menschen gibt, die durch das System fallen.
Es gibt auch in unserem Land Menschen, die nicht sozialversichert sind, Menschen, die nicht krankenversichert sind. Und es gibt immer mehr Menschen, die den Zugang zwar hätten, aber wegen besonderer Lebensumstände nicht haben. Daher: Nein zu Arm und Krank!
derStandard.at: Wie kann sich das eines der reichsten Länder leisten, dass so viele Menschen arm oder armutsgefährdet sind?
Meryn: Wenn wir durch die Straßen gehen haben wir den Eindruck es geht uns besser denn je. Wir sehen nicht, dass immer mehr Menschen arbeitslos werden, immer mehr von ihren Teilzeitjobs nicht leben können, Menschen, die aus dem System fallen. Auch wenn Wirtschaftsexperten sagen, es wird 2010 besser - wissen wir, dass sich viele wirtschaftliche Auswirkungen erst dann - inklusive höherer Arbeitslosigkeit - verstärkt zeigen werden.
Wir können damit rechnen dass Menschen in dieser Situation sich oft keinen Hör- oder Sehbehelf machen lassen, dass sie sich nicht um Zahnersatz und Reparatur kümmern, dass sie für die eigene Gesundheit oder die ihrer Kinder kein Geld ausgeben. Es geht dann oft nur darum, das nötigste irgendwie zu finanzieren. Das setzt die Spirale von Armut und Krankheit in Gang.
derStandard.at: Was kommt zu kurz?
Meryn: Sagen wir es so: Es geht ums Existentielle! Wenn ich eine Alleinerzieherin mit zwei Kindern bin, bedeutet das primär die Ernährung meiner Familie. Egal was, Hauptsache billig. "An apple a day keeps the doctor away" - das sind schöne Sprüche auf Plakaten, aber armutsgefährdete Menschen haben andere Sorgen.
Wir wissen dass zwischen Ernährung und Übergewicht im Kindheitsalter und Krankheit im Erwachsenenalter ein ganz enger Zusammenhang besteht. Ebenso zwischen Stress im Kindesalter und Atemwegserkrankungen oder Allergien später. Stress und Existenzangst führt dann zum Beispiel bei Jugendlichen zu vermehrtem Rauchen und Alkohol . Und wir haben mit immer mehr psychischen Erkrankungen und Ausnahmesituationen zu tun. Und, was alarmierend ist: Es rutschen immer mehr Menschen in die Armut, die eigentlich im unteren Drittel der Mittelschicht leben.
derStandard.at: Wieviel kann überhaupt das Gesundheitssystem beitragen?
Meryn: Ich habe das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft immer stärker entsolidarisiert. Wenn es etwa um die Neue Grippe geht, ist auch auf Grund des großen Mediendrucks plötzlich sehr viel Geld für Präparate mit nicht immer klar belegtem Nutzen vorhanden. Alles, was Armut betrifft, steht aber nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit.
Es wird bei denen gespart, die es am Notwendigsten brauchen. Ich denke man sollte dafür sorgen, dass die, die sich nichts leisten können, hundertprozentig versorgt werden und Menschen wie Sie oder ich, die es sich leisten können, unter Umständen eben dazuzahlen müssen. Dazu muss aber auch die Gesellschaft die Diskussion führen und sich fragen: Wie wollen wir unser Gesundheitssystem gestalten? Was ist soziale Gerechtigkeit?
derStandard.at: Was wären Maßnahmen und Wege, um Armut und Krankheit zu bekämpfen?
Meryn: Ich glaube, dass das Bewusstsein noch gar nicht da ist. Daran müssen wir zunächst arbeiten. In Zeiten wie diesen sagen viele: Ich muss mich jetzt um mich selber kümmern. Wir entsolidarisieren uns. Wir müssen die Leute dazu bringen, nicht wegzuschauen.
derStandard.at: Und wenn das erreicht ist, welche Maßnahmen wären als erste Schritte hilfreich?
Meryn: Wir werden nur etwas verändern, wenn das nicht eine alleinige Angelegenheit des Gesundheitsministeriums ist. Armut und Krankheit muss eine Querschnittsmaterie aller Politikbereiche werden, von Sozial- bis Wirtschaftsministerium.Ein Schulterschluss von Politik, Wirtschaft, Medien und engagierten Menschen ist erforderlich.
Ganz konkret würde ich wirklich dort ansetzen dass ich mich frage: Wer ist sozial und ökonomisch am unteren Ende - und dort, vor allem bei den Kindern, würde ich ansetzen. Etwa was Ernährung, gesundheitliche Versorgung angeht. Und vielleicht sind Maßnahmen wie der früher erfolgreich eingeführte Mutter-Kind-Pass, wo Familien behutsam an gesundes Leben herangeführt werden, notwendig. (Anita Zielina, derStandard.at, 10.12.2009)