
Noch reichen die Reserven für die steigende Nachfrage: Tseng-Dong Wu beim Feinschliff für ein Messer aus Granaten-Stahl.
Die jüngsten Regionalwahlen wecken Zweifel daran, ob die Taiwanesen das auch weiter so wollen.
Taipeh/Wien – Meister Wu ist von bewundernswerter Geduld. Um aus der Hülle einer Artilleriegranate ein Stahlstück herauszuschweißen und daraus ein gebrauchsfertiges Küchenmesser zu schmieden, braucht er zehn Minuten. Die Journalistenfragen zu beantworten und Wünsche nach bestimmten Fotoposen zu erfüllen, dauert um einiges länger. Aber Meister Wu zeigt weder Ermüdungserscheinungen, noch lässt er sich etwaigen Unmut anmerken. Er macht das nicht zum ersten Mal.
Tseng-Dong Wu ist Chef der legendären Messerfabrik auf der Insel Kinmen. Die liegt wenige Kilometer vor dem chinesischen Festland, und dieser Lage als Taiwans Vorposten verdankt Meister Wu das Rohmaterial für seine extravaganten Schneidwerkzeuge.
Millionen Granaten gingen auf Kinmen nieder, nachdem Nationalistenführer Tschiang Kai-schek den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten Mao Tse-tungs verloren hatte und 1949 mit seinen Truppen nach Taiwan geflohen war. Die schlugen Ende Oktober 1949 einen Invasionsversuch auf Kinmen zurück. Die Kommunisten verlegten sich danach auf Artilleriebombardements, das schwerste fand am 23. August 1958 statt. Später schossen Maos Truppen statt scharfer Munition Granaten mit Propagandamaterial nach Kinmen. Das erleichterte Wus Vater Chao Hi, dem Gründer der Messerfabrik, die Rohstoffsammlung.
Noch sind die Reserven groß, aber sie schwinden. Meister Wu und seine Mitarbeiter müssen Überstunden machen, um die steigende Nachfrage zu decken. Denn aus der gescheiterten militärischen ist eine Touristeninvasion vom Festland geworden, seit sich die Beziehungen zwischen Peking und Taipeh entspannt haben. Das geschah nach der Wahl von Ma Ying-jeou, dem Chef der einst von Tschiang Kai-schek geführten Kuomintang (KMT), zum taiwanesischen Präsidenten im Vorjahr. Anders als die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) ist die KMT nicht für die formelle staatliche Unabhängigkeit Taiwans. Wirtschaft zuerst, später vielleicht politischer Dialog, lautet Mas Devise. Entsprechend wurden die ökonomischen Beziehungen zum Festland seit seinem Amtsantritt stark ausgeweitet. Verhandlungen über ein wirtschaftliches Rahmenabkommen laufen.
Symptomatisch ist der Tourismusboom. Seit der Aufnahme direkter Linienflüge vor wenigen Monaten ist die Zahl der Besucher vom Festland sprunghaft gestiegen. Insgesamt sind bisher rund 500.000 Festlandchinesen auf die Insel gekommen. "Millionen werden noch folgen" , prophezeit ein chinesischer Reisebüro-Vertreter, der eine Touristengruppe auf Kinmen begleitet. Nach Angaben der Straits Exchange Foundation, die die Kooperation über die Straße von Taiwan hinweg koordiniert, hat Festlandchina bisher umgerechnet rund 67 Milliarden Euro auf der Insel investiert. Etwa dieselbe Summe machen Taiwans jährliche Exporte nach China aus, gegenüber nur einem Drittel in die umgekehrte Richtung.
Noch profitiert Taiwan also vom Geschäft "über die Straße" . Aber wenn es um die weitere Entwicklung geht, macht sich doch ein gewisses Unbehagen bemerkbar. "Für Peking ist es billiger und leichter, Taiwan zu kaufen statt es zu besiegen" , sagt Chong-Pin Lin, Professor an der Tamkang-Universität in Taipeh und ehemaliger Vizeverteidigungsminister. Darauf angesprochen, reagiert Kao Koong-lian, Generalsekretär der Straits Exchange Foundation, mit einem Lachen, das ein bisschen zu laut klingt, um entspannt zu wirken: "Dass sie Taiwan kaufen können, bezweifle ich wirklich." Dass die Festlandchinesen aber harte Verhandler seien, räumt er ein. Und betont, dass man eine penible Liste der für chinesische Investitionen offenen Branchen erstelle.
Obwohl die Ursachen vielschichtig sind, dürfte das Ergebnis der jüngsten Regionalwahlen bei der Kuomintang auch ein Nachdenken über den Kurs gegenüber Peking auslösen. Die Präsidentenpartei verlor fast überall (wofür sich Ma öffentlich entschuldigte), die DPP legte deutlich zu und zog mit 45 Prozent Stimmenanteil fast mit der KMT (47) gleich.
In allen Umfragen waren die Taiwanesen bisher für den Status quo, also den Schwebezustand zwischen formeller Unabhängigkeit und Wiedervereinigung mit China. Der Denkzettel für die Kuomintang könnte auch bedeuten, dass immer mehr Inselbewohner diesen Status quo durch allzu große Willfährigkeit gegenüber einem chinesischen Wirtschaftsimperialismus gefährdet sehen. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 12.12.2009)