„Es begann mit plötzlich auftretenden Bauchschmerzen, die mir unglaubliche Angst machten. Da ich noch nie solche Schmerzen hatte, beschloss ich eine Spitalsambulanz aufzusuchen, denn ich dachte an einen Blinddarmdurchbruch oder irgendetwas furchtbar schlimmes."

Vor mir sitzt eine junge Frau Mitte zwanzig. Sie wirkt sichtlich erschöpft, hat in den letzten Wochen einige Kilogramm an Gewicht verloren. Der Verdacht auf eine Blinddarmentzündung hatte sich zuvor im Spital nicht bestätigt. Die Patientin wurde nach sorgfältiger Durchuntersuchung mit der Diagnose Reizdarmsyndrom wieder entlassen. Vorderhand war die Patientin von diesem Ergebnis durchaus angetan, jedoch sah sie sich auch in den kommenden beiden Wochen mit denselben Beschwerden konfrontiert, wenn auch nicht in dieser Heftigkeit wie zuvor. Was die Patientin schlussendlich zu mir in die Praxis geführt hat, beschreibt sie mit folgenden Worten: „ Ich traue mich kaum noch zu essen, weil ich Angst davor habe, dass die Schmerzen wieder kommen." 

Bis zum Zeitpunkt der ersten Schmerzattacke waren der Frau Verdauungsbeschwerden vollkommen unbekannt. Stress und der Beginn einer neuen Arbeit als Regieassistentin an einem Theater zieht sie selbst als Auslöser für die Symptomatik in Erwägung. Mit der Diagnose Reizdarmsyndrom weiß sie wenig anzufangen.

Funktionelle Störung

Berechtigterweise, denn das Reizdarmsyndrom dient nur als „Etikett" für Beschwerden, die sich für die Schulmedizin ohne medizinisch ersichtlichen Hintergrund darstellen. Das bedeutet: Schmerzen, Blähungen oder Stuhlunregelmäßigkeiten lassen zwar eine Darmentzündung (Colitis) vermuten, bei genauer Betrachtung der Darmschleimhaut mit Hilfe eines Endoskops (Colonoskopie) zeigt sich jedoch häufig eine völlig unauffällige Darmschleimhaut. Für die junge Frau ein erfreulicher und dennoch unbefriedigender Befund: „Ich habe mich dumm und unverstanden gefühlt. Der Arzt sagt mir, dass ich gesund bin und ich habe trotzdem unerträgliche Schmerzen". 

Eine „eingebildete Kranke" ist die Patientin nicht, auch wenn der makroskopische Befund eigentlich das Gegenteil besagt. Die Vorgeschichte ihrer Beschwerden hat mir die entscheidenden Hinweise geliefert: Im vorangegangenen Jahr litt die Frau mehrfach unter einer Blasenentzündung, die sie mit Hilfe eines Antibiotikums immer wieder zum Abklingen brachte. 

Die kurze Harnröhre bei Frauen und die anatomische Nähe der genitalen zur analen Region begünstigt die Infektion der weiblichen Harnblase mit Escherichia coli. Dieser Keim ist Bestandteil natürlichen Darmflora und damit Teil des Mikroimmunsystems. Die Einnahme eines Antibiotikums zeigt bei Blaseninfektionen in der Regel zwar rasche Wirkung, jedoch wird dabei ein Punkt häufig übersehen: Antibiotika arbeiten nicht selektiv, sondern töten Bakterien im Kollektiv. Das bedeutet: E.coli Bakterien verschwinden zwar aus der Blase, aber ebenso jene im Darm. Das Ergebnis hat einen Namen: Reizdarmsyndrom (RDS).

Darmflora aus der Balance

Ganz typisch für den Verlauf eines RDS: Die Symptome stellen sich nicht unmittelbar nach der Antibiotikaeinnahme ein. Der menschliche Organismus ist vorerst darum bemüht das bakterielle Ungleichgewicht selbst wieder in Balance zu bringen. Gelingt ihm das nicht mehr, kommen die Beschwerden. Ich habe meine Patientin deshalb auf die Möglichkeit einer Stuhluntersuchung hingewiesen, mit deren Hilfe es gelingt die Verteilung der Mikroorganismen im Darm genau zu analysieren. Das Ergebnis zeigte sowohl eine deutliche Verminderung an E. coli, wie auch der anderen physiologischen Darmflora. Ein Teil davon, Lactobazillen und Bifidusbakterien lassen sich mühelos über Joghurt ersetzten, E. coli müssen aber durch in der Apotheke erhältliche Präparate zugeführt werden.

Repräsentant der Gefühle

Aus Sicht der Chinesischen Medizin ist der Dünndarm eng mit dem Herzen verbunden (Yang/Yin Organe). Diese seltsam anmutende Sichtweise ist aus der Beobachtung entstanden, dass Emotionen eine erhöhte Pulsfrequenz, Bauchgrimmen und Durchfall verursachen können und einen Einfluss auf die Harnblase besitzen. Im Zusammenhang mit Prüfungssituationen ist den meisten Menschen dieses Gefühl vertraut. 

Aus der Embryologie wiederum wissen wir, dass sich ab der dritten Lebenswoche die Muskulatur des Magen-Darm-Trakts, der Blutgefäße und des Herzens aus dem gleichen Keimblatt (Mesoderm) entwickeln. Es gibt also eine Verbindung, eine Wechselwirkung, die sich in Mozarts viel zitiertem Satz bestätigt: „ wenn´s Arscherl brummt, ist´s Herzerl g´sund". In der Traditionell Chinesischen Medizin ist das Herz das Zentrum der Emotionen und der Regent des Gehirns (shen 神Geist). Über die Yin/Yang Verbindung können sich daher emotionale Probleme als Darmprobleme repräsentieren.
Der menschliche Organismus selbst ist dabei intelligent genug um herzbeunruhigende Emotionen, wie Liebeskummer, Stress oder Angst, im wahrsten Sinne des Wortes eine Abfuhr zu erteilen. Ein gesunder Prozess, der für die Betroffenen mitunter jedoch höchst unangenehm ist. Aus meinen Erfahrungen in der Praxis weiß ich: Menschen die unter RDS leiden, kämpfen häufig sehr „tapfer" gegen ihre Emotionen an.

Ausgleich durch Akupunktur

Die Domäne der Akupunktur ist es, im konkreten Fall einen Ausgleich von Herz und Dünndarm zu bewirken und damit das Problem kausal zu beheben. In der Kombination mit der Wiederherstellung der physiologischen Darmflora durch die Zufuhr verschiedener Präparate, hat die Behandlung bei meiner Patientin relativ rasch zum Erfolg geführt. Die junge Frau hat sich nach drei Sitzungen selbst als geheilt entlassen. (Evemarie Wolkenstein, derStandard.at, 12.1.2010)