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Spaltete die russische Bevölkerung: Jegor Gaidar.

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Der umstrittene Wirtschaftsreformer und ehemalige russische Premierminister Jegor Gaidar ist unerwartet im 54. Lebensjahr auf seiner Datscha in Dunino nahe Moskau verstorben. Bis in die Nacht arbeitete der Ökonom intensiv an seinem neuen Buch Geschichte der Wirtschaft. In der Nacht auf Mittwoch löste sich ein Blutpfropfen, der zum Tod führte, sagte Gennadi Wolkow, ein Assistent Gaidars laut Nachrichtenagentur Ria Nowosti.

Kaum ein Politiker spaltete die russische Öffentlichkeit mehr als Gaidar. Als Wirtschaftsminister und Premier unter Präsident Boris Jelzin war Gaidar einer der Initiatoren der russischen Wirtschaftsreformen Anfang der 1990er-Jahre. Er gilt als Chefideologe der sogenannten Schocktherapie.

Unter dem Einfluss von amerikanischen Beratern wie Jeffrey Sachs, Andrei Shleifer und Jonathan Hall verfolgte Gaidar eine radikale Liberalisierungsstrategie. Einzelhandelspreise wurden freigegeben, Privatisierungen im Eiltempo durchgeführt.

Die Folge war eine Hyperinflation, die 1992 rund 2500 Prozent erreichte. In der russischen Bevölkerung wird Gaidar deshalb als mitverantwortlich für die Vernichtung der Bankguthaben und die Rubelkrise gesehen. Bei den meisten Russen war der Reformer daher alles andere als beliebt. Davon zeugen auch zahlreiche Einträge auf russischen Internetseiten. "Wenn es eine Hölle gibt, dann schmort Gaidar jetzt sicher in ihr" , schreibt einer der Blogger.

Vermuteter Giftanschlag

Im November 2006 kam es bei einer Buchpräsentation in Irland zu einem seltsamen Zwischenfall. Gaidar brach plötzlich zusammen und blutete aus Nase und Ohren. In einem Interview mit dem Standard mutmaßte Gaidar, der sich 1994 der liberalen Opposition angeschlossen hatte, über einen Giftanschlag. Ärzte fanden dafür allerdings keinen Beweis.

Gaidars Weggefährten, die ihm den Spitznamen "Winnie Puh" gaben, und die liberale Opposition würdigten Gaidars Reformen als Startschuss für die Einführung von Marktmechanismen in Russland. Die Regale der Supermärkte hätten sich innerhalb weniger Monate wieder gefüllt. Gaidar habe Russland Anfang der 1990er vor Hungersnot, Bürgerkrieg und Zerfall gerettet, sagte Anatoli Tschubais, der damals ebenfalls zu den Reformatoren zählte. 1993 hatte Gaidar die russische Bevölkerung während eines Putschversuches aufgerufen, auf die Straße zu gehen und Jelzin zu unterstützen.

Präsident Dmitri Medwedew würdigte Gaidar als mutigen, ehrlichen und entschlossenen Menschen, der im Laufe der kardinalen Veränderungen für unpopuläre, aber notwendigen Maßnahmen eingestanden sei. Auch Regierungschef Wladimir Putin, dessen Wirtschaftspolitik Gaidar oft kritisierte, fand lobende Worte. Das Ableben des Reformers sei ein schwerer Verlust für Russland. Er sei ein talentierter Gelehrter, Praktiker und Schriftsteller gewesen. Mit letzterem meinte Putin wohl den Großvater des Ökonomen, Arkadi Gaidar, einen berühmten Autor zahlreicher Kinderbücher. (Verena Diethelm aus Moskau, DER STANDARD, Printausgabe, 17.12.2009)