Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der deutschen Nachkriegsgesellschaft hat ihren maßgeblichen Ursprung in den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und den späteren Gerichtsverfahren gegen NS-Täter, beispielsweise den Frankfurter Auschwitz-Prozess. In diesen Prozessen standen die Gräuel der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zur Anklage, die auch in der Gesellschaft nicht ohne Spuren blieben. Die Frage nach der individuellen wie kollektiven Schuld bestimmte die Debatte in den letzten Jahrzehnten.
"Gericht und Gedächtnis"
Nicht nur die Gesellschaft, auch die Literatur nahm sich dieses Topos' des Prozesses an und verarbeitete die Frage nach Schuld, Verantwortung und Gerechtigkeit in einer Reihe von sogenannten Dokumentardramen, am bekanntesten wohl "Die Ermittlung" von Peter Weiss. Früher als Historiker versuchte die Literatur allgemeingültige Urteile zu ermöglichen und einen gesellschaftlichen Urteilsprozess zu beschleunigen.
Mirjam Wenzel, Leiterin der Medienabteilung des Jüdischen Museums in Berlin, untersuchte nun anhand einer Fülle von literarischen wie theoretischen Werken den deutschsprachigen Holocaust-Diskurs der 1960er Jahre in dem Buch Gericht und Gedächtnis.
Courtroom-Drama
Zu Beginn der 1960er Jahre stand eine US-amerikanische Produktion, der Film über den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess – Judgement in Nuremberg – am Anfang eines neuen Typs historischer Darstellung. Was heute ein klassisches Hollywood-Genre ist – das Courtroom-Drama – wurde 1961 auf die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Dritten Reichs angewandt.
Am gleichen Tag, als in West-Berlin der Film uraufgeführt wurde, begann in Israel der Prozess gegen Adolf Eichmann. Sowohl Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem, Peter Weiss' Die Ermittlung als auch prozeß in nürnberg von Rolf Schneider bedienten sich beispielsweise nicht nur der Strukturmerkmale einer Gerichtsverhandlung, sondern forderten die Leser auch dazu auf den Prozessausgang eigenständig zu beurteilen.
"Gerichtsformation"
Wenzel beschreibt dies als "Gerichtsformation“ , die die Forderung, die Vergangenheitsauseinandersetzung mit politischen wie juristischen Fragestellungen zu verbinden, vertrat. Abstandnehmen bei dem gleichzeitigen Wunsch nach Einbindung der historischen Ereignisse in allgemeingültige Lehren sind – so Wenzel – entschiedene Merkmale des kollektiven Gedächtnisses, das "in einem bestimmten Zeitraum und an einem bestimmten Ort entstand".
Einen entscheidenden Anteil dieses kollektiven Gedächtnisses hat die Verarbeitung der Gerichtsprozesse in der Literatur. Die "Kunst" des Gerichts, vor den Augen der Öffentlichkeit Recht zu schaffen, fand sich in den Büchern und auf den Theaterbühnen wieder. Die Schuldfrage blieb auch nach den eigentlichen Prozessen Teil der Debatte. Doch auch das Agieren von Angeklagten, Zeugen und Urteilenden kommt dem Agieren in der Literatur, der Darstellung in einem Buch oder in einem Film nahe.
Dokumentarisches Theater
Gerade das in den sechziger Jahren angewandte dokumentarische Theater ermöglicht die Teilhabe der Zuschauer an einem Meinungsbildungsprozess. Angeklagt wurden in der Literatur nicht nur die Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern auch der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im politischen wie mentalen Sinne.
Die Frage der Schuld ermöglichte es auch den Holocaust gesamtgesellschaftlich zu thematisieren. Das Dokumentartheater stellte nach Wenzel auch eine politische und moralische Erziehungsanstalt für die Gesellschaft dar.
Konstruktion eines Holocaust-Diskurses
Den Diskurs in der Literatur stellt Wenzel auch den völkerrechtlichen und moralischen Diskussionen der Zeit gegenüber. Wenzel gibt in ihren Ausführungen aber auch zu bedenken, dass kein eindeutiger Erziehungsprozess in der Gesellschaft, den die Literatur zu entfachen versuchte, nachzuweisen ist.
Die Literatur und die Philosophie stießen in den 1960er Jahren einen Prozess an, der schließlich in den 1970er und 1980er Jahren die sozialpsychologischen Zusammenhänge des Holocaust in den Vordergrund brachte. Anstatt der direkten Konfrontation zwischen Opfer und Täter im Gericht oder in der Gerichtsliteratur, standen Zeitzeugenberichte in Filmen, Ausstellungen und Büchern im Zentrum. Dies bewirkte aber auch, dass sich die Narration personalisierte.
Mittlerweile nimmt die Zahl der Zeitzeugen ab und der Holocaust-Diskurs ist zunehmend von den "Reflexionen und Darstellungen unbeteiligter Personen" geprägt, die nichtmehr das Geschehen selbst, sondern nurmehr die Erinnerung des Geschehens bezeugen können, kritisiert Wenzel. Die Bedeutung der Nachkriegsprozesse besteht darin, dass sich in ihnen selbst die Transformation von Geschichte in ein kollektives Gedächtnis vollzog. Dazu trug - wie Wenzels Buch zeigt - nicht zuletzt die Verarbeitung in literarischer Form bei. (seb)