Politik kann viel mehr sein als das, was die Berichterstattung dafür ausgibt. Das Alltagsgeschäft ist unverzichtbar, erhält aber seinen Sinn erst in der weiteren Perspektive, die Grundsätzliches einschließt, wirtschaftliche, kulturelle und ja, auch ethische Erwägungen.

Von den Schluchten des Balkan und den Mühen der Ebene: Der Untertitel des neuen Buches von Wolfgang Petritsch enthält bereits diese ganze Bandbreite - von literarisch-romantischen Assoziationen zu Südosteuropa bis zur Brecht'schen Aufforderung, sich der Detailarbeit zu widmen. Mit Zielpunkt Europa - so der Haupttitel - legt der österreichische Diplomat Petritsch eine Bilanz seiner Arbeiten aus dem zu Ende gehenden Jahrzehnt vor.

Dass sie umfassend geworden ist, lässt schon seine Biografie erwarten. Nach mehreren Jahren im diplomatischen Dienst in Ex-Jugoslawien - für die seine zweisprachige Kärntner Herkunft gute Voraussetzung war und die in der Position des Hohen Repräsentanten in Bosnien-Herzegowina gipfelte - war Petritsch als Botschafter in Genf tätig und ist nunmehr österreichischer Vertreter der OECD in Paris.

Darüber hinaus war und ist Petritsch in internationalen Initiativen wie der gegenLandminen engagiert, er berät in globalen Konflikten, unter anderem in Afghanistan, er lotet deren kulturelle Tiefen aus - und lässt nie die Vision eines besseren Europa aus den Augen.

Gefährdete Ränder Europas

All das ist in dem Reader versammelt. Aus Interviews, Reden, Essays setzt sich ein beeindruckendes Mosaik zusammen. Egal, wo man beginnt - das Buch verlangt keine lineare Lektüre -, man liest Zeitgeschichte neu. Die Rolle der Medien inBalkankonflikt erscheint in grellem Licht, die gefährdeten "europäischen Ränder" werden analysiert, die Schwierigkeiten differenzierender statt populistisch vereinfachender Minderheitenpolitik, auch in Kärnten, werden deutlich.

Mit sehr persönlichen Betrachtungen rundet Petritsch diese Vita politica ab: zu seiner Herkunft, zu seinen Verständigungsversuchen mit Peter Handke oder zu seinem Lehrmeister Kreisky. Hier schließt die Kritik an den nicht mehr nur neoliberalen, sondern zunehmend auch sozialdemokratischen Tendenzen an, gesellschaftlichen Problemen mit technokratischen Momentanlösungen zu begegnen. Es ist, zynisch gesagt, wohl kein Wunder, dass die SP den renommiertesten Diplomaten des Landes nie wirklich als Außenminister vorgesehen hat.

Erhellend sind schließlich mehrere Dokumente, die hier erstmals in Buchform erscheinen. Dass Petritschs Intervention vor einem US-Gericht zugunsten mehrerer unrechtmäßig in Guantánamo festgehaltener Männer erfolgreich sein würde, war nicht zu erwarten. Dass der Angeklagte Milošević den Prozesszeugen Petritsch zu der serbischen Ethnizität seines Hundes befragt, gehört zu den skurrileren Passagen dieses Buches - das übrigens ein einladenderes, seinem Inhalt entsprechenderes Cover verdient hätte. (Michael Freund, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 02./03.01.2010)