Die unermüdliche Entbürokratisierungsrhetorik eines "Obermodernisierers" der Nation auf dem Prüfstand der Realität

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Christoph Leitl weiß, wie's geht! Immer, wenn in diesem Land Bürokratieabbau und Verwaltungsreformen nötig wären, ist der Wirtschaftskammerpräsident mit guten Ratschlägen zur Stelle. Immer, wenn etwas effizienter gemacht oder eingespart werden könnte, meldet sich der "Obermodernisierer" der Nation zu Wort.

Wenn Leitl loslegt, purzeln die Milliarden nur so aus den aufgeblähten und verstaubten Strukturen dieser Republik: Von insgesamt zehn Milliarden Euro Einsparungspotenzial seien rund die Hälfte beim Pensionssystem zu holen, drei Milliarden aus der staatlichen Bürokratie, zwei aus dem Gesundheitswesen und eine aus der Schulverwaltung, belehrte uns der Präsident erst unlängst in einem Standard -Interview.

Warum dieser zweifellos vorhandene Milliardenschatz noch nicht längst gehoben wurde, ist leicht erklärt: All dieses Geld verschwindet ja nicht in einem finsterem Loch, sondern jeder hierzulande vergeudete Euro stellt für irgendjemanden ein mehr oder weniger verdientes Einkommen dar.

Aus diesem Grund steigen - wo auch immer man mit Reformen ansetzen möchte - wutentbrannte Lobbys auf die Barrikaden. Und dabei handelt es sich primär um Parteifreunde des Kammerpräsidenten: schwarze Pensionistenvertreter, schwarze Landeshauptleute, schwarze Ärztekämmerer und Pharmaindustrielle, schwarze Lehrergewerkschafter ...

Christoph Leitl, der in diesen Tagen sein zehnjähriges Amtsjubiläum als Kammerpräsident feiert und der im Ranking der Mächtigen dieses Landes regelmäßig einen Spitzenplatz einnimmt, täte also gut daran, endlich einmal für die Umsetzung seiner schönen Vorschläge zu sorgen! Schließlich befindet sich seine ÖVP seit bald 23 Jahren an der Macht, und Leitls ebenfalls sehr einflussreicher ÖVP-Wirtschaftsbund hätte in dieser Zeit zumindest in seinem unmittelbaren Verantwortungsbereich die Strukturen unseres Landes einigermaßen fit fürs 21. Jahrhundert machen können.

Doch wenn es um Leitls eigene Klientel geht, ist rasch Schluss mit lustig. Wer zum Beispiel - wie der Autor dieses Kommentars - eine weitestgehende Liberalisierung und Entrümpelung der österreichischen Gewerbeordnung fordert, erlebt einen Kammerpräsidenten, der sich wie ein Löwe vor seine alteingesessenen Meisterbetriebe stellt. Mit den absurdesten Argumenten werden dann viele vollkommen überholte Zugangsbeschränkungen verteidigt, die besonders junge und innovative Betriebsgründer und damit den freien Wettbewerb behindern.

Auch wer den Föderalismus - die übelste Wurzel der österreichischen Reformunfähigkeit - infrage stellt, wird in Christoph Leitl, dem ehemaligen oberösterreichischen Finanzlandesrat, keinen Mitstreiter finden. Leitls eigene Organisation ist selbst ein Spiegelbild dieses überholten Systems. Trotz aller "Kammerreformen" gibt es in der Wirtschaftskammer noch immer völlig überflüssige Zehnfach-Strukturen: eine Bundeskammer und neun weitestgehend unnötige Landeskammern, zehn Abteilungen für Finanz- und Rechnungswesen, zehn IT-Abteilungen, zehn Marketing-Abteilungen, zehn Mitgliederverwaltungen ...

All dies dient in erster Linie der Selbstverliebtheit mächtiger Landeskammerpräsidenten und bringt den Mitgliedern der Wirtschaftskammer so gut wie nichts. Dass in der Wirtschaftskammer heute das Geld nicht mehr - wie zu Leo Maderthaners Zeiten - mit beiden Händen, sondern nur mehr mit einer Hand beim Fenster hinausgeworfen wird, ist vielleicht ein kleiner Trost. Eine sparsame und effiziente Interessenvertretung sieht jedoch anders aus!

Auch die hoch gelobte "Fachorganisationsreform" , mit der die Anzahl der Fachverbände ab 1. Jänner von 128 auf 95 reduziert wird, sorgt bestenfalls dafür, dass die aus dem Zunftwesen des Mittelalters stammenden Strukturen der Kammerorganisation etwas schlanker werden - das moderne Wirtschaftsleben bilden sie nicht annähernd ab. Während wirtschaftspolitische Entscheidungen heute großteils auf europäischer und globaler Ebene fallen, wird die Tatsache, dass nach 150 Jahren Streiterei die zehn österreichischen Bäcker-Innungen endlich mit den zehn österreichischen Konditor-Innungen fusioniert werden, von Christoph Leitl als Meilenstein gefeiert.

Die Mitglieder der Wirtschaftskammer sind die Leidtragenden dieser Reformunfähigkeit: Wer hierzulande mit seinem Unternehmen Leistungen anbietet, die nicht perfekt in die zünftlerischen Strukturen der Wirtschaftskammer passen, wird mit Mehrfach-Mitgliedschaften und Mehrfach-Umlagen bestraft. Firmen mit bis zu zehn (!) Kammermitgliedschaften sind keine Seltenheit, und das Grundumlagenverzeichnis der Wirtschaftskammer ist ein Bürokratie-Juwel der Sonderklasse. So werden allein in der Wirtschaftskammer Tirol 483 (!) verschiedene Grundumlagen eingehoben.

Eine solche Wirtschaftskammer kann kein Verbündeter für eine durchschlagende Modernisierung dieses Landes sein: Warum soll man beispielsweise an der Existenz von 22 Sozialversicherungen, mehr als 700 verschiedenen Kollektivverträgen und neun verschiedenen Landesgesetzgebungen rütteln, wenn man mit der Unübersichtlichkeit des restlichen Landes die Kompliziertheit der eigenen Strukturen wunderbar rechtfertigen kann?

Auch bei den im kommenden März stattfindenden Wirtschaftskammerwahlen sollen die Dinge nicht allzu einfach laufen: Wahlwerbende Gruppen wie die Grüne Wirtschaft, die bei diesem Urnengang bundesweit antreten wollen, müssen mehr als 5.000 Formulare ausfüllen, um überhaupt kandidieren zu dürfen.

Wenn es dem Machterhalt des ÖVP-Wirtschaftsbundes dient, ist sinnlose Bürokratie also kein Übel, sondern ein willkommenes Mittel zum Zweck. Insofern ist Christoph Leitl kein Reformer-Vorbild, sondern ein auf Eigennutz bedachter österreichischer System-Konservierer wie viele andere auch.

Leitl hilft nicht bei der Lösung, er ist leider ein Teil des Problems! (Volker Plass, DER STANDARD, Printausgabe, 4.1.2010)