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Schreiben oder leben? Beides! "Wenn ich etwas erfahren will, schreibe ich": Robert Musil. Eine DVD gibt seinem Werk neue Konturen.

Foto: Archiv

Klagenfurt - "Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selber Erzähler (...) Sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen ,Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen", schreibt Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften. Und: "Ulrich bemerkte nun, dass ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht mehr einem 'Faden' mehr folgt, sondern sich in einer unendlichen Fläche ausbreitet."

Das Leben nicht als ein Nacheinander also, sondern als Fülle von Gleichzeitigkeiten, unergründlich, fließend und fragmentarisch. Zeit seines Lebens hat sich der 1880 in Klagenfurt geborene Robert Musil in seinem Werk mit der widersprüchlichen Konstellation von Literatur und Leben, von Wirklichkeit und Möglichkeit auseinandergesetzt. Stets bewegen sich die Figuren seines großen Romans, seiner Erzählungen und Dramen im Spannungsfeld von Denken und Handeln, Intellekt und Gefühl, Verstand und Irrationalität, Wirklichkeit und Möglichkeit, Einsam- und Zweisamkeit.

"Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt." Das hat mit Virtualität zu tun, mit Identität und ist auch heute noch radikal modern und - wie der Mann ohne Eigenschaften, den Musil in Vorstufen in den 1920er-Jahren begann - radikal endlos. Oder wie Hermann Broch schrieb: "Musil ist vielleicht der exakteste Dichter, den die Weltliteratur je hervorgebracht hat. Er duldet keine Unklarheit oder Verschwommenheit; er lässt das Irrationale nur in Gestalt des Unendlichen zu ..."

Nachdem 1930 der erste und 1932 der zweite Band des Manns ohne Eigenschaften erschienen war, emigrierte Musil nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich 1938 mit seiner jüdischen Frau Martha nach Genf - wo er mit Publikationsverbot belegt wurde und in desolaten finanziellen Verhältnissen lebte. Mit Ausnahme seines Nachlasses zu Lebzeiten, war es ihm seit 1933 nicht mehr möglich zu publizieren. Bis zu seinem Tod 1942 war er ins Schreibtischgebiet verbannt. Dort arbeitete er unermüdlich, mitunter wie ein Besessener, am letzten Teil seines Opus magnum. Er kämpfte - auch um jede Formulierung. Eine Seite Romantext war oft von zehn Seiten Ergänzungen begleitet.

Das Ende der Geschichte

Wie Der Mann ohne Eigenschaften endet, gilt seit Musils Tod als eines der großen Geheimnisse der Literaturgeschichte. Zwar gab seine Witwe schon im Jahr 1943 einen aus Nachlassmaterialien zusammengestellten Fortsetzungsband des Romans heraus, und Adolf Frisé edierte 1952, nachdem er Zugang zum Nachlass erhalten hatte, eine weitere mutmaßliche Endversion. Allerdings räumte auch eine ebenfalls von Frisé besorgte "erweiterte und revidierte Ausgabe" in den 1970er-Jahren die Vorwürfe fehlender Kriterien für die Textauswahl nicht aus.

Was auch nicht verwunderlich ist, immerhin besteht Musils Nachlass aus 40 Heften und 60 Mappen mit mehr als 10.000 Manuskriptseiten mit Kapitelentwürfen, Notizen und Anmerkungen, zwei Drittel davon betreffen den Mann ohne Eigenschaften. 1992 schließlich erschien der handschriftliche Nachlass Musils transkribiert auf CD-ROM, die allerdings schon 1995 durch die Einführung von Windows 95 auf normalen Computern nicht mehr lesbar und teuer (ca. 1500 Mark) war.

An ihr hatte der Literaturwissenschafter Walter Fanta mitgearbeitet. Auf eigene Faust und neben seiner Tätigkeit als Lektor machte er weiter - und verbrachte Jahre damit, das Material nach Produktionsstufen zu ordnen und Entwicklungszusammenhänge sichtbar zu machen. Erstmals war nun ein Wissenschafter in der Lage, zumindest entstehungszeitlich begründete Aussagen darüber zu machen, wie Musil seinen Roman enden lassen wollte. Im letzten "Einfall" Musils im Jänner 1942, kurz vor seinem Tod, werden der "kommende neue Abschnitt der Kulturgeschichte" und "die Rolle Chinas" angedeutet. Möglich, dass "die Geschichte und ihr Wert für die gegenwärtige Wirklichkeit und Zukunft" am Ende eine Rolle gespielt hätten.

Gemeinsam mit Klaus Amann, dem Leiter des Klagenfurter Musil-Instituts, und Karl Corino startete Fanta das vom FWF und der Uni Klagenfurt geförderte Projekt einer DVD-Gesamtausgabe. Zum ersten Mal liegt nun der gesamte Musil, alle Stufen des Romans, alle Briefe, Erzählungen, Novellen und Dramen, alle Aufzeichnungen und Notizen, sämtliche Aphorismen und Selbstkommentare gesammelt vor. All dies ist über Hyperlinks verknüpft und ermöglicht es dem Leser zwischen Textstufen, Transkription und Lesetext zu springen. Eine Suchfunktion ermöglicht das Auffinden beliebiger Stellen.

Sämtliche zeitgenössische Kritiken zu Musil fehlen ebenso wenig wie eine umfangreiche Bibliografie der Sekundärliteratur, ein Register und ein Nachlass-Apparat. Zudem sind die Faksimiles sämtlicher Handschriften und Typoskripte abrufbar. Das ist eine feine Sache, nicht nur für Wissenschafter. "Wenn ich etwas erfahren will", sagte Musil, "schreibe ich." Das Leben und die Literatur in einem, was will man mehr. (Stefan Gmünder /DER STANDARD, Printausgabe, 5./6.1.2010)