Nach dem ersten Amtsjahr des vor allem in Europa begeistert begrüßten US-Präsidenten sind nicht nur die politischen Flitterwochen endgültig vorbei, sondern es wachsen die Zweifel gerade in den mit Barack Obama politisch und persönlich sympathisierenden Kreisen in Washington über die Prioritäten und Methoden seiner Politik. Es geht dabei keineswegs nur um die Vorgeschichte und die Folgen des von Al-Kaida geplanten und nur knapp gescheiterten Anschlags von Detroit, also um die Pannen bei der Koordination der 16 diversen Spionage- und Abwehrdienste. Oder um das dreitägige Schweigen des Präsidenten über die BeinaheKatastrophe während seines Weihnachtsurlaubs.

Bei der grundsätzlichen Kritik an Obama handelt es sich in erster Linie um den Vorwurf, der Präsident versuche viel zu viel zu tun. So wurde in der New York Times Henry Kissinger zitiert, der bei einem informellen Abendessen Obama mit einem Schachgroßmeister verglichen hatte, der bei sechs Simultanspielen die Eröffnungszüge gemacht, aber kein einziges Spiel zu Ende gebracht habe; Kissinger möchte sehen, wie Obama ein Spiel abschließt.

Der bedeutende britische Historiker Paul Kennedy formulierte mit historischen Beispielen, auch aus der Geschichte des Römischen Reiches, eine kritische, ja mahnende Botschaft an Obama zum Jahresende in der Financial Times. Mit Hinweis auf die drei vergeblich geführten Kriege der britischen Truppen in Afghanistan drückt Kennedy seine Zweifel aus, ob die Amerikaner am Hindukusch erfolgreich sein könnten. Der Autor des Werkes Aufstieg und Fall der großen Mächte 1500- 2000 geht noch weiter und stellt die Grundfrage: "Glaubt der Präsident wirklich, dass er gleichzeitig große Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen, beim Klimawandel, in der Steuer- und Finanzpolitik verwirklichen und in Irak und Afghanistan siegen kann? Was passiert, wenn die Verzettelung der Energie das traurige Resultat bringt, dass man nirgends stark und überall schwach ist, oder kompromittiert, nur halb erfolgreich oder gar scheitert?"

Abgesehen von den überzeugten republikanischen Politikern oder extrem konservativen Gruppen wünscht sich die Mehrheit der Amerikaner auch heute nicht eine Rückkehr zur Bush-Politik der Konfrontation. Aber Iran und Nordkorea haben Obamas ausgestreckte Hand ausgeschlagen. Trotz Friedensnobelpreis und glanzvollen Reden wurde der Präsident beim Klimagipfel und in der Finanzpolitik von China und bei der nuklearen Abrüstung (zumindest bisher) von Russland brüskiert. Es stehen noch immer 100.000 US-Truppen im Irak, und ihre Zahl wurde in Afghanistan verdreifacht. Im Nahen Osten konnte Washington keine Bewegung, geschweige denn eine Annäherung zwischen Israel und seinen Feinden erreichen.

Für die Amerikaner sind die Arbeitslosigkeit und das Gesundheitssystem freilich die wichtigsten Anliegen. Wenn sich die Wirtschaftslage nicht bessert und dem Kampf gegen Taliban und Terroristen weitere US-Soldaten zum Opfer fallen, könnten die Demokraten bei den Wahlen im November laut jüngsten Schätzungen 40 Sitze im Repräsentantenhaus und ihre Mehrheit im Senat verlieren. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe, 7.1.2010)