Sind die "da unten" alle korrupt? Nein, sind sie nicht. Die Maßstäbe, nach denen man ein solches Urteil fällen könnte, entstehen eben erst. Jeder, der in Kroatien oder einem anderen Nachfolgestaat Jugoslawiens heute in den besten Jahren ist, hat zeit seines Lebens schon drei einander widersprechende Wertesysteme durchlebt: das sozialistische mit seiner Parteinahme für die Werktätigen, das nationale der Neunzigerjahre mit seiner Wertschätzung für Mut und Loyalität, schließlich das neue, europäische mit seinem kühlen Legalismus. Einen moralischen Kompass, der über alle diese Brüche hinweg funktioniert hätte, hat niemand anzubieten.

Einzelnen Werten aus allen drei Systemen bringen die meisten Menschen noch heute Sympathie entgegen: Sie wollen Rechtssicherheit nach EU-Standard, verleugnen aber die so ganz andersartigen, heroischen Tugenden nicht, die sie durch die Kriegsjahre gebracht haben. Und dass der ungebremste Kapitalismus der Reformstaaten mit seiner Ignoranz von Arbeitnehmerrechten nicht das letzte Wort der Geschichte sein kann, würde wohl jeder unterschrieben.

Nur wer das alles berücksichtigt und gewichtet, darf sich über Korruption, die Kreditpolitik der Hypo, Ivo Sanader oder den ruppigen Milan Bandić ein moralisches Urteil zutrauen. Nicht einmal wenn einer in den Neunzigerjahren Geld genommen hat, richtet ihn das schon. Die Institutionen, wo das Geld eigentlich hingehört hätte, gab es noch nicht, und selbst wer mit dem Geld Geschäfte machte, trug aus seiner Sicht zum "Aufbau der Wirtschaft" bei und wurde nur nebenher reich dabei.

Wer sich an die Finanz- und Steuergesetze des sozialistischen Jugoslawien gehalten hätte, wäre gescheitert. Sanader hat Kredite vermittelt, die Kroatien nie bekommen hätte, wenn es nach den Usancen von Basel II gegangen wäre. Hätte ein Bürgermeister Bandić sich nicht so robust über die Stadtbürokratie hinweggesetzt, sähe Zagreb heute noch so aus wie Minsk.

Auch wer sich - wie Präsidentschaftskandidat Ivo Josipović - Modernisierung auf die Fahnen schreibt, kann nicht umhin, den "branitelji" , den weit nach rechts ausgreifenden Kriegsveteranen, Tribut zu zollen. Wo es keine Ideologie und kein Wertesystem gibt, bilden persönliche Loyalitäten oder Machttricks den Kitt. Das erlebt zurzeit die HDZ von Premierministerin Jadranka Kosor, eine Partei, die in ihrer 20-jährigen Geschichte schon nationale Sammlungsbewegung, rechtskatholischer Orden, Geschäftebörse und Europa-Partei war.

Den Sozialdemokraten geht es kaum besser. "Volksparteien" sind mit ihrer Beliebigkeit beide nicht geworden. Mitten in die moralische Krise trifft nun die reale. 50.000 Werftarbeiter werden in Kroatien ihre Arbeit verlieren. Die Produktion, ohnehin unter Vorkriegsstand, sinkt so dramatisch, wie die Verschuldung ansteigt. Eine nationale Regierung, egal mit welchem Wertesystem, kann damit nicht allein fertig werden.

Für die westeuropäischen Staaten darf die Konsequenz nicht sein, sich abzuwenden oder gar aus der Hilflosigkeit der östlichen Nachbarn noch Profit zu ziehen. Früher oder später fällt jeder Staatsbankrott auf den ganzen Kontinent zurück. Was hilft, ist allein ein vereintes Europa, das alle seine Probleme in Ost und West an- und seine kühlen Regeln ernst nimmt. (Norbert Mappes-Niediek, DER STANDARD, Printausgabe 8.1.2010)