Die Geister der Vergangenheit suchen im preisgekrönten "Lawn" seinen Hauptdarsteller heim. Gruselig und meisterlich zugleich.

Foto: Festspielhaus St. Pölten

St. Pölten - In Österreich ist Gegenwartstanz aus Australien ein bis dato relativ unbekannter künstlerischer Kontinent. Das Festspielhaus St. Pölten möchte das ändern und hat die vor sieben Jahren gegründete Splintergroup zu sich eingeladen. Aus dem Sommer der Südhalbkugel kommen nun Gavin Webber, Grayson Millwood und Vincent Crowley mit ihren Tänzern angereist und werden im Rahmen einer Künstlerresidenz vier Stücke zeigen und einen Workshop abhalten.

Wer meint, dass Austria und Australia auf der Ebene des Tanzes nicht miteinander verbunden wären, irrt. Denn im Jahr 1939 ging die Wiener Tänzerin, Choreografin und Tanzprofessorin Gertrud Bodenwieser in Sydney an Land. Sie gründete ein Tanzstudio sowie ihr eigenes Bodenwieser Ballet und sollte den australischen Tanz maßgeblich beeinflussen.

Im Jahr davor musste die Expressionistin mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Friedrich Jacques Rosenthal, vor den Nazis aus Wien fliehen. Während Rosenthal in Frankreich blieb, später verhaftet und in Auschwitz ermordet wurde, emigrierte Bodenwieser über Kolumbien und Neuseeland nach Australien, wo sie 1959 als anerkannte Künstlerin starb. In Österreich wurde sie erst Ende des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. 2001 wurde sie in die australische Hall of Fame aufgenommen.

Aus Bodenwiesers Schule gingen in ihrer Heimat sehr bekannte Choreografen wie Anita Ardell, Keith Bain and Margaret Chapple hervor. Es gibt auch eine spannende Verbindung zwischen dem deutschen und dem australischen Tanz - über die renommierte Meryl Tankard (54) etwa, die ab 1978 zehn Jahre lang bei Pina Bausch getanzt hatte. Gavin Webber, Jahrgang 1967, war sechs Jahre lang Mitglied des Meryl Tankard Australian Dance Theatre, bevor er bei Maguy Marin studierte und anschließend von dem berühmten Belgier Wim Vandekeybus in dessen Company Ultima Vez engagiert wurde.

Bei Tankard traf Webber in den 1990ern auf den 1971 geborenen Tänzer Grayson Millwood und den 1966 in Kalifornien zur Welt gekommenen ehemaligen Schauspieler Vincent Crowley. Beide zog es nach Europa. Millwood tanzte erst bei Sasha Waltz, dann bei William Forsythe. Crowley traf in Basel auf Joachim Schlömer und begann, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Schließlich kamen die drei Künstler 2003 wieder zusammen und beschlossen, ein Kollektiv zu gründen, das sie Splintergroup nannten. Webber leitete zwischendurch die Company Dance North in Townsville/Queensland. Die Verbindung mit Waltz brachte die Australier nach Berlin und die Verbindung mit Festspielhaus-Leiter Schlömer führte zu der Einladung nach St. Pölten.

Bei Dance North entstanden die beiden Stücke Lawn - Choreografie Crowley, Millwood und Webber - und Remember Me, das von Webber allein stammt.

Mit Lawn feierten die Splintergroupers ihren Einstand - und hatten damit in Berlin gleich beachtlichen Erfolg. Enthusiastisch schrieb eine deutsche Kritikerin: "Ein mystisches Meisterwerk mit surrealer Wucht über Heimweh und den psychischen Effekt chronischen Sonnendefizits, entstand 2004 in Berlin mit dem Live-Cellisten Iain Grandage in, auf und unter dem Mobiliar eines Apartments (Uraufführung in Brisbane/ Australien). In diesem Mix aus Tanz und Physical Theater - hochdynamisch und gefährlich - ergänzen sich die dramatischen Qualitäten der Akteure vortrefflich. Die Metamorphose eines Berliner Zimmers à la Josef Nadj ist pure Magie und macht Lust auf mehr."

Stück des Jahres

In Australien wurde die Aufführung, in der Crowley, Millwood und Webber gemeinsam auftreten, zum besten Stück des Jahres gekürt und war international auf mehreren Festivals zu sehen. Darin geht es um einen Mann, der von seiner Kindheit träumt und in dessen Einzimmerwohnung die Geister seiner Vormieter spuken. Eine dunkle Vergangenheit kriecht langsam und unaufhaltsam aus den Wänden hervor ...

In Remember Me dagegen, einer sehr aktuellen Produktion, geht es weniger unheimlich und surreal zu. Dort treffen zwei Generationen beim Gesellschaftstanz aufeinander. Zärtlichkeit und Nostalgie bestimmen die Atmosphäre der Begegnung. In dieses sehr physische Stück sind auch Senioren eingebunden - die in St. Pölten extra gecastet wurden. Remember Me ist ein Nachdenken über das Leben, das Altern und den Tod. Livemusik, Film, Tanz und Schauspiel finden in dieser berührenden Arbeit zusammen.

Und im Thema Erinnerung finden die beiden Stücke zusammen. Der einsame Mann in seinem gespenstischen Berliner Gehäuse erinnert sich an die schönen Strände in Australien. Aber hinter seinen Tagträumen verbirgt sich etwas anderes, ewas Dunkles, Verdrängtes. Und die älteren Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne von Remember Me erinnern daran, dass wir alle einmal nicht mehr da sein werden. Dass wir selbst einmal Erinnerung sein werden, die langsam verblasst. Zum Hintergrundrauschen des Todes wird durch das Leben getanzt, bis es ausklingt und sich dabei mit diesem Rauschen verbindet. (Helmut Ploebst/DER STANDARD/8.1.2010)