Er klappert ein großes Orchester nach dem anderen ab, aber Yannick Nézet-Séguin weiß: "Von einem Rezept würde das Musikmachen sicher nicht profitieren."

 

Qualität als Konstante - Die Mozartwoche bietet einen fulminanten Mix aus Tradition und Moderne 

Nur so ein Gedanke: Würde man eine Saison lang auf Musikkonsum fast zur Gänze verzichten, also nichts als die Salzburger Mozartwoche besuchen - man hätte für seine persönliche musikalische Grundversorgung dennoch ausreichend viel getan. Zweifellos kann man diesen Eindruck gewinnen, so man das diesjährige Programm (das von 22. bis 31. Jänner zu erleben ist) genauer betrachtet.

 

Mozart in intelligenter Originalklang-Qualität bieten u. a. Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Marc Minkowski und René Jacobs. Auf der anderen Stilseite treffen die Philharmoniker den aufstrebenden Dirigenten Yannick Nézet-Séguin und Routinier Christoph Eschenbach. Natürlich ist auch solistische Qualität zugegen: Im Klavierbereich wird sie von Lars Vogt, András Schiff, Leif Ove Andsnes und Marino Formenti vertreten, im Vokalen u. a. durch Annette Dasch, Andreas Scholl, Angelika Kirchschlager und Michael Schade.

 

Da wären aber unbedingt auch Geiger Gidon Kremer und Komponist und Klarinettist Jörg Widmann zu nennen, auch Cellist Heinrich Schiff. Ganz wesentlich ist heuer zudem die Präsenz von Komponist György Kurtág - schließlich ist es eine Spezialität der Mozartwoche, auch die Moderne zu Klangwort kommen zu lassen.

 

Als wäre diese Namensfülle nicht schon ausreichend, um ein sehr gutes Festival zu ergeben, wird auch noch Oper serviert. Und zwar szenisch. Mozarts Idomeneo, musikalisch betreut von Dirigent Marc Minkowski, wird in der Regie des Franzosen Oliver Py gezeigt. Auch ein noch zu Entdeckender. (Ljubisa Tosic, SPEZIAL - DER STANDARD/Printausgabe, 07.01.2010)

Foto: Mozartwoche

Standard: Herr Nézet-Séguin, Sie gastieren derzeit bei allen großen Orchestern, Festivals und Häusern. Zu Silvester haben Sie Ihren Einstand an der New Yorker Metropolitan Opera gegeben, nach einer Kanada-Tournee stehen Sie nun erstmals am Pult der Wiener Philharmoniker. Wie fühlt es sich an, von einem großen Debüt zum nächsten zu jetten?

Nézet-Séguin: In den letzten paar Jahren gab es eine Reihe von wichtigen Debüts. Natürlich ist das anstrengend und überwältigend, aber letztlich macht mir das immense Privileg, großartige Musik mit den besten Orchestern zu machen, so viel Freude, dass ich mich sehr gut dabei fühle.

Standard: Überwiegen nicht manchmal neben den positiven Seiten der Herausforderung die stressigen?

Nézet-Séguin: Jeder Künstler lernt sehr früh den Umgang mit Stress kennen, ob es um die Aufführung auf der Bühne geht oder darum, bei den Proben gut vorbereitet zu sein, oder, im Fall eines Dirigenten, die verschiedenen Seiten eines Orchesters oder eines Opernhauses zu bewältigen. Ich persönlich denke, wenn wir uns auf die Musik konzentrieren und auf die gewaltigen Werke der Schöpfer, denen wir dienen, dann werden diese zusätzlichen stressenden Aspekte ziemlich unbedeutend.

Standard: Wie stellen Sie sich auf die verschiedenen Orchester ein? Was sind die Unterschiede zwischen den Orchestern in Montréal, Rotterdam, London und den anderen, mit denen Sie arbeiten?

Nézet-Séguin: Es ist sehr wichtig für mich, dass die Persönlichkeit eines jeden Orchesters, mit dem ich arbeite, in Verbindung mit meiner eigenen Persönlichkeit und meiner Interpretation deutlich wird. Natürlich stehen wir im Dienst der Komponisten, aber ihre Meisterwerke sind derart unermesslich, dass sie es aushalten und sogar brauchen, von den Musikern belebt zu werden. Es würde mich überhaupt nicht interessieren, die Rotterdamer Philharmoniker, das London Philharmonic Orchestra oder das Montréal Metropolitain dazu zu bringen, im gleichen Stück gleich zu klingen. Das würde bedeuten, ein Rezept anzuwenden, und das Musikmachen würde sicher nicht davon profitieren.

Standard: Wie nähern Sie sich den Wiener Philharmonikern an? Wie haben Sie sich vorbereitet, was wissen Sie von den Besonderheiten dieses Orchesters?

Nézet-Séguin: Natürlich sind die Wiener Philharmoniker eines meiner absoluten Lieblingsorchester. Die Möglichkeit, sie bei einem so tiefgründigen Werk wie dem Mozart-Requiem zu dirigieren, ist sehr aufregend, auch weil ich zunächst als Chordirigent ausgebildet wurde. Ich stelle mir unsere gemeinsame Zeit so vor, dass wir Liebe und Respekt für Mozarts Musik teilen - unter den besten Bedingungen in der Welt.

Standard: Außerdem stehen Kurtágs "Lieder der Schwermut und Trauer" auf dem Programm. Wie sehen Sie dieses Werk?

Nézet-Séguin: Ich denke, es ist eines der größten Meisterwerke in der Chormusik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich habe das Werk vor einigen Monaten, ebenfalls mit dem Rundfunkchor Berlin, in Rotterdam neben Beethovens 9. Symphonie gespielt - ein großartiger Gegensatz. Für das Salzburger Konzert bildet der Ausdruck von Trauer, Leid und Streben nach einem besseren Welt in Kurtágs Werk eine ideale Vorbereitung auf Mozarts Requiem, das auf seine Weise dieselben Dinge zum Ausdruck bringt.

Standard: Sie wollten schon als Kind Dirigent werden. Hatten Sie unmittelbare Vorbilder?

Nézet-Séguin: Mein Interesse an Musik entwickelte sich bereits, als ich Klavierunterricht bekam, besonders aber, als ich anfing, in einem Kirchenchor zu singen. Ich sah die Chorleiter und war fasziniert von ihnen. Ein paar Jahre später, als ich Konzerte in meiner Heimatstadt Montréal besuchte, zum Beispiel mit Charles Dutoit und Zubin Mehta, war die Berufung da. Da wurde es entschieden.

Standard: Haben Sie Ihr Studium in Montréal eigentlich abgeschlossen? Sie haben dann Meisterkurse besucht, etwa bei Carlo Maria Giulini, und früh praktische Erfahrungen gesammelt. Wo haben Sie am meisten gelernt?

Nézet-Séguin: Größtenteils habe ich in Montréal fertig studiert, und zwar Klavier, aber mit einer Menge Kammermusik, Musiktheorie, Komposition, Analyse - und ein wenig Dirigieren ... Später war Maestro Giulini meine bedeutendste Inspirationsquelle, sowohl musikalisch als auch menschlich. Die Zeit, die ich mit ihm verbrachte, war die wichtigste meines musikalischen Lebens.

Standard: Nervt es Sie eigentlich, dass immer wieder Ihre Jugend hervorgehoben wird?

Nézet-Séguin: Das war nie ein Problem für mich. Ich halte es für normal, dass sich ein Dirigent zu bewähren hat, in jedem Alter! Das Schöne am Dirigieren und an Musik im Allgemeinen ist, dass es keine Grenzen gibt, wie weit wir unser Metier und unsere interpretatorischen Fähigkeiten vervollkommnen können. Um das zu erreichen, muss man aber früh anfangen. Die Interpretationen, die ich jetzt, in meinen Dreißigern, geben kann, sind sicher verschieden von dem, wie es mit siebzig sein wird, wenn Gott will ... Aber ich hoffe, es ist dennoch hörenswert.

Standard: Sehen Sie sich in Zukunft mehr als Opern- oder Konzertdirigent?

Nézet-Séguin: Ich hoffe, genau in der Mitte. Alle Dirigenten, die ich bewundere, haben ein sehr gutes Gleichgewicht zwischen den beiden Bereichen. Einer ergänzt den anderen, das ist das Wesen der Musik.

Standard: Ihre Karriere läuft wie am Schnürchen. Bleiben da Projekte, von denen Sie träumen?

Nézet-Séguin: Ehrlich gesagt ist es mein Traum, weiter Musik mit diesen wunderbaren Musikern und Sängern rund um die Welt zu machen, für viele, viele Jahre ...

(Daniel Ender, SPEZIAL - DER STANDARD/Printausgabe, 07.01.2010)