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Unumstößliche Wahrheiten: "Tausend Meilen von zu Haus, sieht die Welt ganz anders aus." Freddy Quinn repariert in seiner ersungenen Freizeit alte Pendeluhren. Wenn wir noch richtig ticken, erreichen wir sicher den nächsten Zug nach Hamburg.

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Wir aßen Ribiselmarmeladebrote und tranken Wasser im Strahl aus der Leitung. Die Kornfelder draußen bogen sich krumm am Schwarzbrot unter den Ähren, der Urlaub in Kärnten am Maltschacher See trug jedes erdenkliche Ausland ganz unbestritten bereits in sich.

Das Leben Ende der Sechzigerjahre war insgesamt ein Wunschkonzert aus diffusem Fernweh, gepaart mit bloßfüßiger Wildheit, unterstützt von Heimaterde, die uns psychologisch unangetastet, also natürlich, aufwachsen ließ.

An den Nachmittagen in der Küche, unter der Beschallung aus dem Kapsch-Radio, wurden wir mit klaren, melodisch verbrämten Aussagen über die Polarität von Heimat und Fremde konfrontiert, der Urheber jener einwandfrei entzweiten Welten hieß Freddy Quinn und besang im Wunschkonzert für siebzigjährige Onkeln und Tanten die Wehen von Fernsein und Matrosen-Einsamkeit in reimhaltigen Häfen, beschwor mit simplen Kombinationen aus lateinamerikanischen Traditionselementen eine Farbenopulenz unerreichbarer Sinnlichkeit, nur gebrochen und überboten durch eine daheim auf ewig wartende Geliebte, die als schmalzgeseifte Hafenstatuette zum Manifest der Treue poliert wurde.

Freddy Quinn war das Inbild einer der breitwandigsten Reibflächen für uns Pubertierende, über diesen singenden Eltern-Liebling wurde der damalige Generations-Konflikt abgewickelt, hier Barry Ryan, Rolling Stones und The Who, dort Heintje, die Dominique-nique-nique-skandierende Nonne und der Veteran der sieben Weltmeere. Vor dem Kapsch-Radio entbrannte ein Urstreit zwischen dem Verfechter der Welt als Scheibe und denen, die den Globus rundum auf den Kopf gestellt haben wollten.

Das Radio selbst indessen strahlte sein immerwährend grünes Licht dazu ab, den Freisendeschein für Vergangen, vergessen, vorüber und im selben Atemzug auf anderer Frequenz für I can't get no Satisfaction.

Reibfläche für Pubertierende

Was Freddy Quinn als unumstößliche Gewissheiten in den Raum stellte, verkehrten wir in die hormongesteuert ziellosen Ballereien einer Flipper-Kugel à la "Pinball Wizard". Angefeuert zu solch leichtsinnigen Moritaten wurden wir frühmorgens schon von Ilse Buck mit ihren isometrischen Übungen, wobei es bereits genügte, den Zeigefinger zwei Sekunden gegen die Kaffeetasse zu pressen, um den Sturz eines afrikanischen Diktators herbeizuführen.

Das Knistern der Radioröhren lieferte den nötigen, akustischen Kick für die Life-Schaltung auf allen Sende-Ebenen und die lichterlohe Motivation zu großen, revolutionären Taten.

Nur die Seebärenstimme von Freddy Quinn ließ uns keine Chance auf subversive Ansinnen, sogar im Kriegs-Protestlied Hundert Mann und ein Befehl brach sein stämmiger Fatalismus durch, und in der Offenherzigkeit des Reims konnte das Schicksal wahllos zuschlagen. Auch sonst drehte sich das Sänger-Universum um immer dieselben pittoresken Verhältnismuster: Heimat und Hafen, Sehnsucht und Ferne, Sterne und Meer, Schiffe und Inseln, denen ausgeliefert zu sein von Melancholie bis zu freudiger Bejahung sämtliche Schattierungen einer inbrünstiger Zuneigung trug.

"Wir spielten schon als Kinder Kapitän und Steuermann" , so höre ich es heute von der Kassette Best of ... knistern und knacken und mir schießt eine nostalgische Welle übers Gesicht, wobei mir die Scham schwerfällt angesichts der zu Seifenblasen verdünnten Abenteuer-Reservate in unserer Charter-vernetzten Flugliniengesellschaft mit ihrer Urlaubsausbeute an ungereimten Fotoschnulzen.

Abgekupferte Fernweh-Launen

Die hohle Welthaltigkeit selbst kleinster Straßendörfer im Abseits frequentierter Wege, deren aus Reiseprospekten abgekupferte Fernweh-Launen jederzeit Last-Minute an entfernte Insel-Seligkeiten gekoppelt werden können, lassen den Globus weiter auf einen ortlos kompatiblen Punkt schrumpfen. Dabei wird es sogar möglich, dass sämtliche Bewohner einer Reihenhaussiedlung all-inclusive im türkischen Club sich zum Heimatbrei-Einerlei formieren, und es ist egal, ob dabei an Meereswellen oder beim dörflichen Kirchenwirt gestrandet wird, weil der Komplex der Welt sich nicht mehr aus Polaritäten nährt, sondern aus Nivellierungen, die jeden sonst wie gehobenen Meeresspiegel absenken auf Liegestuhlniveau, und weil hier wie dort die Sonne gleich rot untergeht.

"Mit Freud und Leid verrinnt die Zeit" ist eine scheinbar topografisch ausgelagerte Feststellung zur Lebensqualität eines jeden Menschen. In Zeiten von Freddy Quinn jedoch war dieser Satz außerdem vertäut an einem feststehenden Ort, der als immerwährende Heimat und zum Fixstern glorifiziert die Ausgangsbasis jeder Reise erinnerte. Denn "tausend Meilen von zu Haus, sieht die Welt ganz anders aus" .

Während wir unter ständiger Verkürzung der Wege von Punkt zu Punkt hasten und die Geografie auf Flugplänen digitalisieren, dehnt sich im minimierten Wortschatz von Freddy Quinn die ganze Spanne zwischen hier und irgendwo ins unermesslich Beschränkte, sind darin alle Wunschvorstellungen von Fremdheit in den gröbsten Klischees aufgemetert, Bilder, die einer nur hat, wenn er außerhalb seiner Illusionen nichts weiß von dem, was ihn andernorts wirklich erwarten mag. Aus den Unwägbarkeiten der Reise erwächst das Bedürfnis nach beständiger Verinnerlichung von Sicherheiten, der Ankerwurf zielt direkt in den Herzmuskel.

"Bin ich auch weit im sonnigsten Land der Erde, weißt du, dass ich dich niemals vergessen werde ... La Palome ohe! Einmal schlägt uns die Stunde der Trennung, einmal komm ich zurück." Irregeführt durch schmelzende Hawaii-Gitarren entblößt sich hier die gröbste, hierarchische Ordnung einer Weltanschauung, die streng unterscheidet zwischen Sternenhimmeln und Erdböden, strikt abgesetzt voneinander stehen sich hier die schwankenden, dort die verlässlichen Werthorizonte gegenüber.

Im Zeitalter des Crossover, in der Vermischung von Stilebenen und Gattungen, von Beliebigkeiten und Marktzwängen, findet eine nicht nur nostalgische Berührtheit statt zwischen Kapsch und Hörer, wir merken vielmehr die erstaunte Erschütterung, die durch die permanenten Wandlungen der Gegenwärtigkeit bricht in einer Wehmut über die Austauschbarkeit scheinbarer Annäherungen von Pol zu Pol, die gängige Nüchternheit von Betrachtungsweisen, die Kurzlebigkeit von Provokationen, und mögen es auch gewaltsame Tode sein, deren Aktualität von der nächsten Nachrichtensendung sofort wieder aufgehoben ist.

Dieses Dahingeraffte und Kurzlebige der Katastrophen fordert vom Gehirn eine enorme Anpassung an die beschleunigte Wechselhaftigkeit der Wirklichkeiten, eine große Wachheit für Differenzierungen, die wiederum nach einem ebenso großen Aufgebot an Entspannung verlangt, weshalb bereits mehrprozentig benebelnde Talkshows notwendig sind, um die Orientierungslosigkeit auf ein zwischendurch ruhendes Abstellgleis zu führen.

Dass wir endlich dermaßen global geworden sind, wie es einst das grüne Kapsch-Licht in seiner unerschütterlichen Ruhe verheißen hat, lässt uns fast zwanghaft schon wieder oder erneut den Erdball nach Scheiben-Rändern absuchen.

Jederzeit auf einem Schiff

Aber weil wir uns sehr davor fürchten, zu Reaktionären abgestempelt in verstaubten Schubladen ein vergammeltes Dasein zu führen, besuchen wir keine legendären Rolling-Stones-Konzerte mehr, sondern stellen unsere grenzgängerischen Irritationen zur Schau zwischen Hip-Hop-Stakkati - "Es geht mir gut, es geht mir gut, es geht mir sehr, sehr gut" - und kritischen Notaten zum Zeit-Geschehen: Wir versuchen, so punktuell wie möglich zu agieren, das heißt, jedes Jahr im Zugzwang ein neues Buch auf den Markt zu werfen, um nicht unseren unökonomisch obsoleten Hang zu "Kanada, kennst du Kanada, jetzt in Kanada, das wär schön, Mexico, kennst du Mexico, einmal Mexico, musst du sehn. ... Irgendwann gibt's ein Wiedersehn, irgendwo auf der großen Welt ..." bekennen zu müssen.

Dabei würden wir jederzeit liebend gern auf einem Schiff anheuern, das nach irgendwo fährt in "eine kleine große Freiheit, die es doch in Wirklichkeit nicht gibt".

Alles, was und wohin wir wahrhaftig wollen, ist auf Land- oder Wasserwegen schwer erreichbar. Also portionieren wir unsere Sehnsucht und essen sie mit Stäbchen. Die Erde, das spüren wir, trägt uns nur noch teilweise.

Sie ist ein Puzzle aus Talkshows, den Memoiren gealterter Schauspieler und den Spasmen ferngesteuerter Irrläufer. Hongkong bleibt dabei gleich nah und gleich fern.

Freddy Quinn repariert in seiner ersungenen Freizeit alte Pendeluhren. Wenn wir noch richtig ticken, erreichen wir sicher den nächsten Zug nach Hamburg. Vielleicht treffen wir den Lederstrumpf des Schlagers Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins, oder wir suchen doch noch "die Insel Niemandsland, die niemand fand außer mir".

Dazwischen dürfen wir ruhig im grünen Lichtschein ein bisschen wehmütig werden.

(Adelheid Dahimène, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 09./10.01.2010)