Als einmal die Leserschaft gegen die Provokationen im Feuilleton der Frankfurter Zeitung protestierte, entgegnete im Namen der Redaktion der Oberprovokateur, Siegfried Kracauer, stolz: "Was wir wollen, ist: Ihnen die Augen öffnen über gesellschaftliche Zustände und menschliche Verhältnisse, von denen Sie morgens am liebsten nichts wissen möchten. An diesen Attentaten gegen Ihre Gemütsruhe ist uns allerdings viel gelegen." Eine Auswahl seiner besten Feuilletons, alle zwischen 1925 und 1933 erschienen, besorgte 1963 Kracauer selbst. Unter dem Titel Straßen in Berlin und anderswo liegt sie in der Bibliothek Suhrkamp in einer schmucken Neuausgabe vor.

Für Kracauer waren seine journalistischen Arbeiten "soziologische Expeditionen": Er zog aus in die Randbezirke und Grenzbereiche der Großstädte, die für ihn unerforschte gesellschaftliche Kontinente waren. Die moderne Massengesellschaft der Weimarer Republik mit ihrem sich "amerikanisierenden" Kulturbetrieb war sein Afrika. Er flanierte, stets offen für den erkenntnisbescherenden "Choc", über Frankfurter und Berliner Plätze, ergab sich in labyrinthischen Vierteln dem Straßenrausch und panischen Angstzuständen, mischte sich in Wärmehallen und "Arbeitsnachweisen" unter die Heerscharen der Arbeitslosen während der Weltwirtschaftskrise und erforschte die Fluchtorte der Zerstreuung der neuen Angestelltenkultur wie Pianobars, Tanzlokale oder Sportveranstaltungen.

"Übergangsstätten" und "Passagen" aller Art zählten zu seinen bevorzugten Objekten. Wie die Berliner Lindenpassage, von der er sich nach ihrer banausischen Modernisierung 1930 in einem seiner großartigsten Feuilletons wehmütig verabschiedete, hatte ihm doch ihre Erkundung Einsichten in die heuchlerische Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft geliefert: In dunklen Durchgängen wie diesem, fern der repräsentativen Fassaden, sammelte sich alles Zwielichtige und Ausgeschlossene an, eine Buchhandlung für erotische Literatur, eine sensationslüsterne medizinische Ausstellung und allerlei dubiose Läden. Über die modernisierte Passage schreibt Kracauer lakonisch: "Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen. Scheu drängen sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird - vielleicht den Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?" Man sieht, welch prognostische Sprengkraft Kracauers Feuilletons besaßen.

Wie dem Psychoanalytiker Träume Aufschlüsse über die unbewussten Wünsche eines Patienten liefern können, analysierte Kracauer Räume, Orte und Stadtansichten: "Diese Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft."

Kracauer, der 1933 nach Paris und später nach Amerika flüchten musste, war von der Wirkung seiner Texte überzeugt. Er sah sich als intellektuellen Anarchisten, dessen Artikel "zusammengenommen (...) einen ganz hübschen destruktiven Effekt" ergäben, der "die gewohnten Alltagsbilder" sprengen wollte, um einen unverstellten Blick auf die Realität zu ermöglichen. (Oliver Pfohlmann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 09./10.01.2010)