Die Französin Maryse Vaillant (65) ist klinische Psychologin und Erzieherin. Ihre Publikationen und Konferenzen betreffen Themen wie Paar-beziehung, Familie, Adoleszenz oder Jugendgewalt. Maryse Vaillant: "Les hommes, l'amour,la fidélité" . Verlag Albin Michel, Paris 2009

Buchcover

Standard: Bevor ich Ihr Buch las, dachte ich, Treue in der Beziehung habe etwas mit Liebe zu tun. Naiv?

Vaillant: Als ich für mein Buch Männer und Frauen über ihr Treueverhalten befragte, erhielt ich Antworten, die mehr mit den Befragten als mit ihrem Partner zu tun hatten. Man kann den Partner lieben, aber sexuell einen anderen begehren. Nehmen wir jenen Mann, der seine Frau liebt und sie als Mutter seiner Kinder respektiert, der auch Bewunderung und Zärtlichkeit für sie übrig hat, der sie auch nach zehn Jahren Ehe noch genug begehrt, um mit ihr ab und zu schlafen zu wollen - dem aber erst richtig heiß wird, wenn er eine kleine Süße sieht. Und schon sticht er ihr hinterher und wird seiner Frau untreu.

Standard: Obwohl er sie liebt?

Vaillant: Die Ehe ist nicht natürlicher als vieles, was der Mensch erfunden hat. Sie beinhaltet einen Verzicht. Dieser Ehemann ist nicht bereit zu verzichten. Er redet sich ein, er brauche das Abenteuer für seine Virilität. Dieser Männertyp ist überzeugt, dass er damit die Ehe intakt hält. Aus seiner Sicht stimmt das: So ist er in der Lage, seine Frau weiter zu lieben, gerade weil er sie betrügen kann. Er will sie auf keinen Fall verlassen, fühlt sich als guter Ehemann. Deshalb hegt er auch keine Schuldgefühle. Solange die Frau glücklich ist mit ihren Kindern und ihrem Berufsleben, sieht sie kein Problem darin. Wird sie aber unruhig und schöpft Verdacht, beginnt die Jagd nach Indizien - und bald ist Schluss. Er hält ihr noch voller Überzeugung entgegen: ‚Das war doch nur eine kleine Affäre, ich liebe nur dich.‘ Dieser Frau genügt das nicht mehr, sie will ihren Gatten zur Gänze. So kommt es zum Bruch, und flugs setzt sie ihn vor die Tür. Sie ihn - nicht umgekehrt!

Standard: Will die Frau nicht vermeiden, dass die Ehe zerbricht.

Vaillant: Ja, das kann zu einem stillschweigenden Pakt werden: Er lügt, sie glaubt ihm. Wenn man den moralischen Aspekt einmal beiseite lässt, muss man zugeben, dass eine solche Konstellation eine Beziehung lange bewahren kann. Ein Nicht-wissen-Wollen kann einer Familie erlauben, zusammenzubleiben. Ein untreuer Mann hat genug Schuldgefühle, um den Hochzeitstag nicht zu vergessen und sich mustergültig um seine Kinder zu kümmern.

Standard: Sagen Sie uns gerade: Es lebe die Untreue?

Vaillant: Ich finde, dass man die Untreue in Zeiten einer erdrückenden Moralisierung ein wenig rehabilitieren sollte. Verheiratet zu sein ist keine einfache Sache. Wenn in diesem Fall eine gelegentliche, emotionell unbedeutende Untreue dazukommt, muss das nicht tragisch sein. Wenn man davon ausgeht, dass Liebe und Begehren nicht identisch sein müssen, kann das eine Ehe auf die Dauer zusammenhalten. In dem Fall kann Untreue auch ihr Gutes haben, aber nur in einer Liebesbeziehung, in der sich beide Seiten engagiert fühlen! Dieses Engagement geht über das sexuelle Begehren hinaus. Dieses Bündnis ist so wichtig, dass es nicht wegen eines nebensächlichen Falls von Untreue platzen sollte! Wer dem Seitensprung seines Partners eine zu hohe Bedeutung beimisst, gefährdet die Ehe oft mehr als der Seitensprung selbst.

Standard: Richtet sich das in erster Linie an die Frau? In der Praxis geht meist der Mann fremd.

Vaillant: Das Recht dazu muss gleichmäßig verteilt sein. Wenn sich der Mann das Alleinrecht dazu herausnimmt, baut er die Beziehung auf seiner Macht und seinem Geld auf; in dem Fall macht ein Seitensprung alles schlimmer. Der Frau bleiben die Kinder und die Mutterrolle, sie verliert sich, bis alles in der Sackgasse endet. Die Ehe zweier erwachsener Menschen muss eine Lüge ertragen können. Eine reife Frau denkt nicht gleich, ihr untreuer Mann sei ein schlechter Vater oder ihr selbst ein schlechter Mann. Unerwachsene Frauen überbewerten die Untreue zu ihrem eigenen Nachteil.

Standard: Was würden Sie einer betrogenen Frau raten?

Vaillant: Deshalb habe ich mein Buch geschrieben: Um den Frauen verstehen zu helfen, warum Männer untreu werden. Damit sie verstehen, dass ihr ein Mann ehrlich sagen kann: ‚Ich liebe dich‘, während er denkt: ‚Mit der dort ginge ich gerne ins Bett.‘ Nicht alles, was der Mann will, gehört der Frau. Einige Dinge entgehen ihr wie auch ihm. Eine Frau, die das kapiert, leidet weniger, wenn es passiert. Zur Verzweiflung treiben mich hingegen die Ratschläge in den Frauenmagazinen: ‚Lernen Sie Striptease‘, ‚Nehmen Sie fünf Kilo ab!‘ Meinen Sie, ein Mann bleibe treu, weil sie ein paar Kilo verliert? Er liebt und begehrt sie, wie ist sie, oder eben nicht.

Standard: Sie haben als bekennende Feministin viel Verständnis für die Männer.

Vaillant: Viele Männer gebärden sich einfach wie junge Burschen. Die Gesellschaft bringt ihnen bei, sich wie ein Phallus zu benehmen, statt ihr Hirn und ihren Willen zu benützen. Männer lernen, dass ihr Begehren gewaltig sei, dabei ist es zerbrechlich. Fragen Sie einen Mann, der gerade wieder behauptet, er spüre sein Testosteron, wie es denn seiner Mutter gehe; der Arme beruhigt sich recht plötzlich. Es liegt an den Frauen, den Mann in den Haushalt einzubinden, dafür zu sorgen, dass er die Kinder erzieht, dass er Abwaschen für sexy hält.

Standard: Frauen nehmen sich dieses Recht, untreu zu sein, weniger heraus.

Vaillant: Frauen werden auf ihre Art untreu. Sie gehen oft nicht bis zum Äußersten, dafür sind sie viel besser im Fantasieren und Träumen, sei das mit dem Nachbarn, dem Blumenverkäufer, George Clooney.

Standard: Da müssten Internet-Sex-Foren für sie ein gefundenes Fressen sein.

Vaillant: Ja, das zieht Frauen ebenso an wie Männer. Via Internet einen heißen Sexkontakt mit einem Unbekannten zu haben, ohne ihn zu treffen, hat Vorteile: Es bindet nicht, man holt sich keine Krankheiten, man macht keine Kinder.

Standard: Ist das Untreue?

Vaillant: Gleich diese moralische Frage! Es kommt auf das Maß an. Sich abends virtuell Dinge zu erlauben, die im Alltag nicht möglich sind, um sich etwas zu erlauben, was das Paarleben nicht beeinträchtigt - warum nicht?

Standard: Neben dem typischen Fremdgeher beschreiben Sie auch den Fall des Mannes, der zwei Frauen gleichzeitig liebt.

Vaillant: Das ist der Mann, der allen Frauen treu ist. Er ist nicht in der Lage, eine Frau zu verlassen. Er hat häufig Kinder aus mehreren Beziehungen, zahlt allen Kindern Alimente. Er liebt seine Gattin, aber er liebt auch seine Geliebte. Diese Art Männer, die sich nie ablösen, weil sie die Liebe mehrerer Frauen brauchen, sind unfähig zu lügen oder ihr Spiel zu verstecken. Während sie ihre Gattin nie verlassen würden, sehen sie sich meist von ihr vor die Tür gesetzt.

Standard: Hätte sie denn eine andere Wahl?

Vaillant: Kommt darauf an, ob es sich um eine "Teilhaberin" handelt, die bereit ist, ihren Mann mit einer anderen zu teilen. Das kommt durchaus vor. Schließlich liebt er sie wirklich und macht ihr Versprechungen, die er sogar ernst meint; er macht ihr Kinder, er schmiedet Pläne und baut eine Zukunft mit ihr auf. Bloß macht er das auch mit einer zweiten oder dritten Frau. Nicht viele können damit umgehen, aber einzelne finden sich erstaunlich gut damit ab.

Standard: Sie sagen, es gebe auch krankhaft treue Menschen.

Vaillant: Für mein Buch traf ich zahlreiche Leute, die gerne fremdgingen, aber treu bleiben, weil sie gehemmt sind. Die Treue ist wie eine Mauer um sie. Manchmal bricht sie ein. Ich habe Männer getroffen, die ihr Leben lang treu waren, bis etwas passierte; sie verloren ihren Job, bekamen ein Kind, oder ihre Frau verließ sie. Das warf sie aus der Bahn und verführte sie zum Seitensprung oder Bordellbesuch. Ihre künstlich konservierte Treue brach ein, als es im geregelten Leben zu einem Schock kam.

Standard: Um eine Frage kommen Sie nicht herum, Frau Vaillant: Sprechen Sie bei dem ganzen Thema Treue aus Erfahrung?

Vaillant: Ich war selber verheiratet, bin Mutter, heute auch Großmutter. Nach einer langen, leidenschaftlichen Ehe und der Scheidung kannte ich viele Männer, doch seit zwanzig Jahren lebe ich in einer festen Beziehung, und wir sind beide sehr treu geworden.

Standard: Dann beruhigen Sie uns bitte zum Schluss: Hat die Treue nicht auch ihre Vorzüge?

Vaillant: Natürlich! Wahre Treue ist etwas Wunderbares, wenn man wirklich treu sein will - und zwar nicht weil man liebt, sondern weil man sich selbst kennt, weil man weiß, wer man ist. Das ist eine Frage der Reife. In dem Fall vermittelt Treue in der Beziehung eine große Freude, ein Gefühl von Schönheit und Eleganz; sie macht kreativ und großzügig und sie verbindet. Aber wie gesagt: Wenn diese Reife nicht vorhanden ist, kann unbedingte Treue auch einengend sein, während ein Seitensprung als Ventil wirken und die Beziehung damit sogar bewahren kann. (Stefan Brändle, DER STANDARD/Printausgabe 09.01./10.1.2009)