Für Adolf Hitler "der gewaltigste deutsche Bürgermeister aller Zeiten": Karl Lueger, hier als Gegenstand der Denkmalpflege (Foto von 1935)

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Der Boss berief sich gerne aufs Volk (Foto von 1900)

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Am 10. März 1910 starb Karl Lueger. Er hatte Jahre qualvollen Leidens hinter sich; chronischer Diabetes, eine Nierenerkrankung und andere Komplikationen hatten ihn am Ende seines Lebens fast gänzlich erblinden lassen. Seine gesundheitlichen Probleme hatten fast unmittelbar nach seinem Amtsantritt als Bürgermeister im Jahr 1897 begonnen und waren bereits 1906 erstmals lebensbedrohlich geworden. Im darauffolgenden Jahr war sein Zustand derart bedenklich, dass er auf jede aktive Rolle im Wahlkampf von 1907 verzichten musste.

Bei einem seiner letzten Auftritte in der Öffentlichkeit im Jänner 1910 hielt Karl Lueger eine bemerkenswerte Rede beim Begräbnis von Ferdinand Klebinder, einem liberalen Gemeinderat aus der Leopoldstadt, der auch ein aktives Mitglied der Wiener jüdischen Gemeinde war. Seinen Zuhörern, liberale Politiker und Vertreter der jüdischen Gemeinde, sagte Lueger Folgendes: "Es wird jedermann mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, das derjenige, der vonseiten der Bevölkerung an die Spitze der Gemeinde gestellt worden ist, der mit der höchsten Würde, die Bürger verleihen, bekleidet wurde, verpflichtet ist, angesichts der Majestät des Todes abzusehen von jedem Parteiunterschiede, und den Mann zu ehren, der seine Pflicht getreu und redlich erfüllt hat. Ferdinand Klebinder war ein Gemeinderat im vollsten Sinne des Wortes. Er hat seine Pflicht voll und ganz erfasst.

Er war stets bei der Sache, und wenn ich auch mit ihm nicht immer einverstanden war, ich habe immer gerne seinen Rat gehört und ihn auch oft befolgt. (...) So glaube ich verpflichtet zu sein, ihm hier Worte der Dankbarkeit und der Verehrung zu weihen."

Der Anlass mochte ungewohnt sein, Luegers Worte und Gefühle waren es nicht. Empfand er jetzt, angesichts seines eigenen nahenden Endes, etwas wie Bedauern über die Verleumdungen, die er an die Adresse der Führung der Wiener jüdischen Gemeinde gerichtet hatte? Selbst wenn wir die Beteuerungen der Arbeiter-Zeitung für bare Münze nehmen, dass Karl Lueger sich in seinen letzten Jahren bemüht habe, Ungerechtigkeiten zu verhindern und Kompromisse zu erreichen, bliebe eine derartige Annahme noch immer höchst zweifelhaft und würde dem widersprechen, was wir sonst über diesen Mann wissen.

Eine Wendemarke

Es steht außer Zweifel, dass Lueger für einen Politikerkollegen wie Klebinder Freundschaft und kameradschaftliche Gefühle empfand; umgekehrt war für ihn ebenfalls selbstverständlich, dass normale mitbürgerliche Beziehungen und Parteipolitik in zwei völlig verschiedenen Sphären zu Hause waren. Trotzdem war Klebinder nicht nur Liberaler und Jude, sondern auch Berufspolitiker und Bürger der Vaterstadt.

Innerhalb des Paradigmas "Krieg" galt es, Spielregeln des Kampfes zu beachten und ausgewiesene professionelle Expertise zu respektieren. So wie er es mit anderen prominenten Juden gehalten hatte, die in verschiedenen kommunalpolitischen Belangen Experten waren, wusste Lueger Klebinders Rat während seiner ganzen Amtszeit eindeutig, wenn auch unausgesprochen zu schätzen und zu nutzen.

Wenn dieser politische Manichäismus - dies sei zu Luegers Gunsten gesagt - die Kommunikationskanäle zur jüdischen Gemeinde die ganze Zeit hindurch offenhielt, dann muss auch - erschwerend und zu seinen Ungunsten - gesagt werden, dass er sich offenbar nicht bewusst war, vielleicht sich auch gar nicht bewusst sein konnte, welche Zurücksetzung und Kränkung für einzelne Juden seine Konfrontationspolitik verursachte.

Das Klebinder-Begräbnis sagt ebenso viel aus über die integrativen Kontakte wie über die desintegrative Kontaktlosigkeit zwischen Juden und Nichtjuden in Wien. Nach Luegers Tod stellte sich die Israelitische Kultusgemeinde mit einer unspektakulären, aber aufrichtigen Beileidsbezeugung ein. Arthur Schnitzler empfand sie freilich als würdelos und überlegte, "ob etwas dagegen zu thun sei ..."

Luegers Tod bedeutete eine Wendemarke in der Geschichte des Christlichen Sozialismus und der österreichischen Politik im Allgemeinen. Zwei der erhellendsten Nachrufe zu diesem Anlass erschienen respektive in der Arbeiter-Zeitung in Wien und in der sozialdemokratischen Zeitschrift Kommunale Praxis in Berlin.

Für den Leitartikler der österreichischen Tageszeitung lag der Schlüssel zum Verständnis Luegers in erster Linie in seinem einzigartigen und erfolgreichen "Willen zur Macht". Dieser hätte ihn etwas erreichen lassen, was sich im übrigen Mitteleuropa als praktisch unrealisierbar erwiesen hatte: "das Kleinbürgertum politisch zu organisieren und als selbständige Partei zu konstituieren. Lueger war vielleicht der erste bürgerliche Politiker, der mit Massen rechnete, Massen bewegte, der die Wurzeln seiner Macht tief ins Erdreich senkte."

Die Folge war eine "tiefgreifende Umwälzung, denn er "raffte alles zusammen, was unterhalb der Großbourgeoisie und oberhalb des Proletariats nach Befreiung rang und befähigt schien, ihn als Befreier zu betrachten. Diese disparaten Schichten, die keine Gleichartigkeit ökonomischer oder kultureller Interessen verband, die bedrängten Handwerker und Kleinkaufleute, die kleinen Beamten, die Handlungsgehilfen schmolz er zusammen zu seiner Partei, er organisierte und disziplinierte sie, er machte aus dem von den liberalen Protzen hochmütig verachteten ,kleinen Mann' den Herrn dieser Stadt."

Der sozialistische Kommentar aus Österreich stellt in erster Linie auf Luegers Willen zur Macht über die Massen ab. Lueger erscheint hier als Politiker, der eine neue, antisozialistische Gesellschaft konstituierte und heranzog, eine Gesellschaft, die weit mächtiger und daher auch weit gefährlicher war als das liberale Vorgängerregime. Im Gegensatz dazu stellt der Berliner sozialistische Journalist Luegers Beziehung zum Staat in den Vordergrund und zeichnet Lueger als kraftvollen Berufspolitiker, der sich, anders als die meisten Bürgermeister deutscher Großstädte, nicht mit der Rolle des "ordentlichen und rechtlichen Verwaltungsbeamten" begnügte. Lueger habe dem österreichischen Staatsbeamtentum und, wenn erforderlich, sogar der Krone seinen Willen aufgezwungen.

Weit davon entfernt, dies als Pose zu kritisieren, meinte der Verfasser, der Umstand, dass Lueger das Amt des Bürgermeisters politisiert habe, sei de facto "sein höchster Ruhm" - nicht weil die Politik der Christlichsozialen moralisch in Ordnung war oder dem Wiener Sozialismus entgegenkam (was beides in den Augen des Journalisten nicht der Fall war), sondern weil das österreichische Staatsbeamtentum die Uhren nicht mehr würde zurückdrehen können in eine Zeit, in der die politischen Werte und Probleme der Willkür professioneller Bürokraten ausgeliefert waren.

Genau besehen, erweisen sich die beiden sozialistischen Perspektiven als komplementär. Karl Lueger und seinen Stellvertretern war es gelungen, die bürgerliche öffentliche Meinung in Wien zu mobilisieren. Dabei machten sie sich ältere politische Traditionen der Liberalen zunutze, dehnten aber die Klientel, die für diese Traditionen infrage kam, auf die untere und mittlere Mittelschicht aus und versetzten sie in die Lage, eine Politik zu gestalten, die ihren sozialen und wirtschaftlichen Interessen entsprach.

Lueger und seine Leute erzwangen auch eine Neugestaltung der Machtverhältnisse im Regierungssystem, nicht nur in Wien, sondern auch in den anderen deutschsprachigen Kronländern. Unter geschickter Ausnutzung der Mechanismen der Selbstverwaltung hatte Lueger eine zweite Ebene von "Räumen" geschaffen, in denen sich die Parteien in den Ländern und in Wien betätigen konnten und die eine Alternative zum gescheiterten parlamentarischen Leben auf der Ebene des k. u. k. Staates darstellten. Diese Räume boten der administrativ-politischen Interaktion neue Möglichkeiten, die flexibler waren als alles, was bis dahin in Österreich oder auch in Preußen vorhanden gewesen war.

Zweifaches Dilemma

Dass Karl Lueger sich mit solchem Nachdruck und in einer ganz auf seine Person zugeschnittenen Weise in den Besitz der Macht gesetzt hatte, stürzte seine Partei bei seinem Tod in ein zweifaches Dilemma. Einerseits gab es keine Einzelpersönlichkeit in der christlichsozialen Elite, die Lueger ohne weiteres ersetzen konnte; wie die Leute an der Spitze der Parteiapparate in amerikanischen

Großstädten hatte Lueger bewusst darauf verzichtet, einen Nachfolger aufzubauen, solange er selbst in der Lage war, sein Amt auszuüben. Und andererseits hatte Lueger kraft seiner Persönlichkeit die verschiedenen Bezirksbosse im Zaum gehalten und voreinander geschützt; ein Führer mit weniger Charisma würde die Ressourcen eines professionellen Stabs von Parteifunktionären brauchen, um die Dispute rivalisierender Vereine und dissidenter Einzelpersonen zu steuern, die ein unvermeidlicher Bestandteil jeder großstädtischen politischen Organisation waren (und sind). Die Partei sah sich daher jetzt mit der Aufgabe konfrontiert, einen regelkonformen Apparat zur Aufrechterhaltung der Disziplin und zur Koordination der politischen Planung aufzubauen.

Lueger hatte in der Partei viele verschiedene Rollen gespielt: Er war Vorsitzender der Parlamentsfraktion der Reichspartei und somit auch Vorsitzender der gesamten Partei gewesen; Bürgermeister von Wien; offizieller Führer der Landtagsfraktion; Vorsitzender der Partei in der Hauptstadt; und charismatischer Sprecher und Repräsentant der Partei gegenüber der Öffentlichkeit. In mancherlei Hinsicht war er ein "Parteiboss" im amerikanischen Sinn des Wortes, obwohl seine politischen Ansichten und die Grundsätze seiner Verwaltung Züge aufwiesen, die man eher der progressiven Einstellung zuordnen würde, die Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder als Gegenpol zum unausrottbaren "Bossismus" beschworen wurde.

Unterschiedliche Interpretationen von Luegers Amtsführung würden zu völlig verschiedenen Platzierungen auf dem Kontinuum Bossismus - Fortschrittlichkeit führen, je nachdem, welche Merkmale man akzentuiert. Man könnte z. B. ohne weiteres behaupten, Lueger sei ein "Boss" in Reinkultur gewesen. Er regierte die Stadt autokratisch, nach Maßgabe seiner Willkür und berief sich zur Rechtfertigung seiner Entscheidungen unablässig auf sein Interesse am "Volk" und auf seinen Respekt vor dem "Volk". In den letzten Jahren seiner Amtsführung, als seine Popularität den Höhepunkt erreichte, stand seine Autokratie aber zweifellos auf einer echten demokratischen Basis.

Lueger spielte auch die Rolle des patriarchalischen Herrn im Haus, tolerierte und vertuschte oft genug Korruption innerhalb seiner eigenen Partei und bediente sich eines geschlossenen Systems der Vetternwirtschaft, um die Partei auf Bezirksebene bei der Stange zu halten. Ebenso gut konnte man aber umgekehrt sagen, Luegers Regierung sei auch gegen Big Business aufgetreten, soweit er kommunalen Rechten den Vorzug gegenüber privatem "Kapitalismus" gab.

Manchmal manipulieren

Von einem amerikanischen Standpunkt aus könnte man Luegers kommunalen Sozialismus auch in der progressiven Politik verorten, da seine profitorientierte Sicht auf kommunale Industrie- und Serviceunternehmen, die es nach Grundsätzen rationalen Managements zu führen galt, auch von progressiven Reformern gebilligt worden wäre. Lueger war nicht nur gewählter Bürgermeister, sondern auch oberster Verwaltungsbeamter der Stadt und trug in Anbetracht der Doppelrolle von Wiens Verwaltung politische Mitverantwortung auf der Ebene des k. u. k. Staates. Lueger hatte so die einzigartige Gelegenheit, sowohl die Rolle als "Boss" als auch die des "dezentralisierenden Reformbürokraten" zu spielen, eine Kombination, für die es in der Geschichte der US-Großstädte so gut wie keine Parallelen gibt.

Karl Lueger teilte mit seinen Kollegen in den Parteiapparaten Amerikas die Erfahrung, dass es manchmal nötig ist, die Verwaltung im Sinne der Parteipolitik zu manipulieren und umgekehrt den Ehrgeiz der Partei in Bahnen zu lenken, wo er einer effizienten Verwaltung nicht im Wege steht - zwei Kategorien, die sich durchaus nicht gegenseitig ausschließen. Es bestehen aber auch grundlegende Unterschiede vor allem in der Taktik, die mit der Verschiedenheit des gesetzlichen und kulturellen Hintergrunds zu tun haben, vor dem Lueger bzw. seine amerikanische Kollegen agierten. Wie viele große amerikanische Städte war auch Wien eine Einwandererstadt, und Rücksichtnahme der Partei auf ihre "tschechische" Wählerklientel war eine wichtige, wenn auch unauffällig

durchgehaltene Variable in ihren Wahlerfolgen. Aber weder war die christlichsoziale Partei speziell von diesen Leuten abhängig noch verstieg sie sich zur Rolle einer Vorkämpferin für deren Anliegen und Vorrechte.

Wenn Lueger das Wort "Volk" in den Mund nahm, meinte er gewöhnlich die in der korporatistischen Tradition Wiens stehenden und in ihr verwurzelten Menschen, die auch der Konzeption Wiens als kaiserliche Vaterstadt unverrückbar positiv gegenüberstanden. Klassenbezogene ideologische Konflikte waren für eine Reihe von Zwängen verantwortlich, die so in US-Städten nicht gegeben waren, und machten das städtische politische System Wiens sowohl schwerfällig wie auch wenig offen.

Die Partei der zur Unterschicht gehörenden "Immigranten" (im Sinn amerikanischer Städte) in Wien war die Sozialdemokratische Partei, nicht die Christlichsoziale. Allenfalls war Luegers Partei die der Hausherrn, der Besitzenden, der industriellen Interessen, der Staatsbeamten sowie der wohlhabenden steuerzahlenden Handwerker und Kaufleute (inklusive derjenigen, die in erster oder zweiter Generation aus Böhmen oder anderswoher eingewandert waren). Hätte man Wien als Ganzes in die Vereinigten Staaten transferiert, dann ist - angesichts des Umstands, dass die Bürgermeister-Bosse in Amerika gewöhnlich bei Unterschichtseinwanderern um Stimmen warben - anzunehmen, dass die christlichsoziale Wählerschaft die Basis für eine potenziell fruchtbare progressive Reformbewegung gegen den Bossismus abgegeben hätte.

Luegers Forderung, dass sich Neuankömmlinge einer "Germanisierung" unterziehen müssen, stand ebenfalls der von den amerikanischen Progressiven vertretenen Anregung einer "Amerikanisierung" näher als der Haltung der amerikanischen Parteiapparate, die ohne weiteres bereit waren, die Einwanderer kulturell so zu akzeptieren, wie sie waren. Ebenso erinnert die hohe Wertschätzung, die Luegers Partei für die Autonomie der Kronländer empfand, und ihre Ablehnung des "Zentralismus" an amerikanische Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Was die Christlichsozialen von städtischen amerikanischen Reformern unterschied, war ihr völliges Desinteresse an positiven Assimilierungsmaßnahmen für Immigranten, wie sie z. B. die Settlement-Bewegung vertrat. Den Christlichsozialen lag eine Art sozialdarwinistischer Ansatz viel näher: diejenigen Einwanderer, die überlebten und es aus eigener Kraft wirtschaftlich zu etwas brachten, würden zu guter Letzt die Christlichsozialen wählen; diejenigen, denen das nicht gelang, würden sowieso den Sozialdemokraten in den Schoß fallen.

Das bedeutete natürlich nicht, dass nicht auch Neuankömmlinge in Wien Lust verspüren konnten, christlichsozial zu wählen; bei Gemeinderatswahlen hatten aber nur wenige von ihnen die Möglichkeit, überhaupt zur Wahl zugehen, bevor sie sozial und wirtschaftlich einigermaßen Fuß gefasst und auch beträchtliche soziale Mobilität bewiesen hatten. Zu sehr war das Kurialwahlsystem zugunsten etablierter besitzender Eliten gewichtet.

Damit die Partei eine in sich stimmige demokratische Rolle in Wien spielen konnte, wäre es erforderlich gewesen, einen Großteil ihrer Autorität an den christlichsozialen Arbeiterflügel abzutreten, genauso wie die demokratische Reichspartei die Bauern gegenüber dem urbanen Mittelstand privilegierte. Für die wohlhabenden Handwerker und Hausherren war Ersteres völlig und Letzteres großteils unzumutbar.

Die Christlichsozialen wiesen de facto in ihren paternalistischen und korporatistischen Ansichten große Ähnlichkeiten mit den älteren liberalen Eliten auf, die sie erst besiegt und dann kooptiert hatten. Auch sie waren Besitzende, auch sie waren zuerst und zuvorderst Stadtbürger im Gegensatz zu Staatsbürgern. Nur aufgrund seines Besitzanspruches auf die Stadt konnte Lueger die führende Rolle seiner Partei im Kurialwahlsystem rechtfertigen. Wien stand genauso im Eigentum der traditionellen Besitzer der Stadt - des steuerzahlenden Bürgertums -, wie seine Häuser im Eigentum der christlichsozialen Hausherren standen, die sich im innersten Sanctum der Partei eingerichtet hatten. In dieser Sicht erschien die Stadt als ein nach außen geschlossener Stand und die Partei als das Abbild dieser privaten Welt. Parallel dazu erschien Wien als ein Bollwerk, das sich gegen "andere" richtet, nicht als ein Mekka für "andere".

Es ist bemerkenswert, wie sehr diese Abwehrhaltung in der literarischen Hagiografie Wiens gleich bleibt, gleichgültig, ob die Stadtgeschichten aus liberaler, christlichsozialer, nationalsozialistischer oder sozialdemokratischer Feder stammen. Nicht die Möglichkeiten, die Wien Einwanderern bot, überwiegen in der Literatur, und auch nicht der Pluralismus der Gesellschaft, die sie willkommen heißen würde - Wien war tatsächlich zugleich offen und pluralistisch, trotz seiner Regierenden -, sondern das den Neuankömmlingen entgegengebrachte Misstrauen und die Forderung nach ihrer Bereitschaft zu kulturellem und ideologischem Konformismus. Dies war die Schattenseite von Karl Luegers kultureller Parteinahme: Tschechen waren willkommen, aber erst mussten sie zu Wienern werden; Juden konnten mit Toleranz rechnen, aber erst mussten sie ihr Judentum ablegen. (John Boyer/DER STANDARD, Printausgabe, 9./10. 1. 2010)