Der Konkurrent hieß: Streptomycin. Dass das Mittel wie ein polnischer Höhenkurort klang und im Gegensatz zum Schweizer Bergort nur eine einzige Aussicht bot, tat nichts zur Sache. Denn die war dafür ziemlich gut: Schnelle Heilung von Tuberkulose, so lautete das Versprechen von Streptomycin. In der Wintersaison 1944, wenige Monate nachdem das neue Wundermittel die Runde machte, begann Davos selbst ein wenig zu hüsteln. Auch angesagte Höhenkurorte sind nicht gegen alles immun. Davos, das sich ab 1865 zum ersten Lungenkurort Europas aufgeschwungen hatte, war da keine Ausnahme. Der Strom der Kranken dünnte langsam aus, immer mehr husteten auf den Trip ins Graubündner Oberland. Die teuren Sanatorien, die eben noch Erste-Klasse-Patienten aus halb Europa zum gleichförmigen Liege-Ritual versammelt hatten, wurden leer und leerer. Hans Castorp, der lakonisch die Seiten durch(w)eilende Held von Thomas Manns identitätsstiftendem Roman Der Zauberberg hatte den Ort allerdings schon Jahrzehnte zuvor verlassen.
All das ist lange her - und zugleich auch nicht. Davos, im Zuge des Sanatorien-Hypes bald auch Ort medizinischer Forschung, hat sich heute auf Reflexologie verlegt. Oder sagen wir lieber: Auf jene Reflexe, die sich angesichts des Zauberberg-Mythos von selbst einstellen. Denn egal, ob man von einem der Zickzackwege zur Schatzalp auf den legendären Kurort hinunterblickt oder aus den superfixen Garnituren der Parsennbahn, die die üblichen Buntscheck-Ski-Herden Richtung Weissfluhjoch-Pisten hochkarrt - die Vergangenheit holt einen hier mühelos ein. Aber sonderbar: Je mehr man sie schlummern lässt, desto unmittelbarer ist sie da ...
Doch davon später. Lassen wir den Romanzauber noch ein wenig ruhen, bis endlich die weichen Wolldecken aufgerollt sind. Zunächst noch ein wenig City-Wege gespurt: Die silbernen Löffel musste Davos jedenfalls nicht abgeben. Die Stadt verteidigte ihren Status als höchstgelegene Europas, hält weiterhin Hausstaubmilben und Schnäppchenjäger auf Distanz.
Und jeden Winter prallen pünktlich Ende Jänner Wirtschafts-Gurus und Polit-Touristen aufeinander - allerdings auf der Piste der weltökonomischen Berg- und-Tal-Fahrten und zum Ärger der lokalen Tourismusdirektoren. Doch Davos trägt auch das mit weltläufiger Fassung: Die Zackendiagramme der Charts, die beim dann stattfindenden Wirtschaftsgipfel nachgeklettert werden, und die vereisten Horizonte der umliegenden Realo-Bergwelt - längst handelt es sich um eine fest ineinander verzahnte Davoser Allianz.
Immerhin hatte die flächenmäßig zweitgrößte Gemeinde der Schweiz ja sicherheitshalber alles mit eingemeindet, was einst der Heilung, später zumindest der Ruhe förderlich schien - die umliegenden Wiesen und jetzt verschneiten Hänge, die in die benachbarten Skiberge übergehen. Eingemeindet wurde aber auch jenes hohe Maß an Internationalität, das so gar nichts mit alpinen Klischees zu tun hat und das Davos aufgeblähten Architektur-Folklorismus ersparte. Lieber verordneten die vielen, internationalen Bauherren, dem Ort eine modernistische Rosskur: Flachdach, Beton, viel Glas. So wünschte es der Gast in den Zwanzigerjahren, auf dem Gipfel des Booms, als sich gut zwanzig Sanatorien über die Stadt verteilten. Dass sich die reichen Ausländer an der Davoser Promenade eine Englische Kirche samt britischem Hauspfarrer zulegten, bald schon Wahrzeichen des umliegenden englischen Viertels, ist Teil dieser Geschichte. Schon gar seit Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle in einem launigen Essay das Skilaufen in Davos beschrieb und damit einen wahren Briten-Boom auslöste. Davos vor hundert Jahren: Es lag irgend- wo auf dem Gipfel der winterlichen Ferienwelt, herausgelöst aus der umliegenden Schweiz. Ein Ort ohne zähe Traditionen, dafür offen für Neues: Das erste Rodelrennen wurde 1883 hier ausgetragen. Es folgten die erste Eislauf-WM der Frauen (1906), der weltweit erste Bügel-skilift (1934), ein von den Briten angelegter Eislaufplatz, der sich nun in die größte Natureisbahn Europas verwandelt hat. Alles in allem nicht gerade schwachbrüstig für das einstige Lungenkranken-Mekka der Welt.
Dächer, flach wie Tabletten - und Häuser, die sich wie Schachteln auf dem Nachttischchen der Kranken aneinanderreihen - diese Medizin verschreibt Davos seinen Gästen noch heute. Ein wenig ins Stocken gekommen ist die mutige Davoser Architektur allerdings schon. Herzog & de Meuron wollten bauen - aber das schon seit Jahren. Dafür eröffnete diesen Winter auf dem acht Jahre lang geschlossenen Traditionsgebiet von Schatzalm/Strela das erste "entschleunigte" Skigebiet der Schweiz, eine nostalgische Antwort auf Hightech und Helmpflicht. Kein bisschen Kunst-, sondern garantiert echter Schnee, Tickets für Einzelfahrten wie anno dazumal, ausgewählte Volksmusik an den beiden Liftstationen - ruhiger und gemütlicher soll es hier zugehen, mehr im Stile und mit der Stille der alten Zeit.
Wie man sich diese vorzustellen hat, verrät die wichtigste Davoser Einrichtung: die Sonnenterrasse mit passender Sonnenliege für artgerechte Gästepflege. Sie finden sich nicht nur auf dem Schatzberg - hier liegt das sukzessive restaurierte Jugendstil-Sanatorium Schatzalpe - sondern auch im Waldhotel Davos, einem weiteren südseitig gelegenem Davoser Sanatorium, das sich heute in ein Luxushotel verwandelt hat.
Allerdings in ein ganz besonderes: Handelt es sich doch tatsächlich um das ehemalige Waldsanatorium, das Thomas Mann 1912 zu Der Zauberberg inspirierte, dem Roman über die Zeitempfindung an sich. Historische Fotos und ein unverändert gebliebenes "Sanatoriumszimmer" lassen hier Thomas Manns Welt auferstehen. Und natürlich auch jene Davos-Perspektive, die einst Ärzte empfahlen und heute der deutsche Betreiber des wiederentdeckten "Licht- und-Luft-Konzepts" und für die vorsorglich flauschige Wolldecken aufgebreitet werden. Und natürlich originalgetreue Nachbildungen jener Liegestühle, die auch Mann zu nutzen pflegte, als ihn der Lungenspitzenkatarrh seiner Frau Katia nach Davos verschlug.
Genau: Wir befinden uns in ähnlich angenehm einlullender Schräglage wie der schwatzhafte Herr Settembrini und die "mörderlich ungebildete" Frau Stöhr, wie die Rabauken vom schlechten Russentisch, und natürlich wie Hans Castorp - und gucken einfach in die Luft. Immerhin haben die Waldhotel-Architekten ja einen Trick eingebaut, um die Schwindsüchtigen auf den liebevoll rekonstruierten Liegen zu halten. Leicht gekippt verlaufende Terrassenböden, die einen nach hinten fallen und tendenziell nach oben blicken lassen, sind der beste davon. Das Resultat: blauer Himmel als eigentliches Davos-Panorama, Frischluft als einzig wahre Perspektive. Wer jetzt die Zeit findet, den Zauberberg vor diesen Ausblick zu schieben - der ist auch ohne Rodel und Skier längst am Ziel. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgebe/9.1.2010)