Es ist halb drei Uhr morgens, als es an der Haustür in Salzburg-Gnigl klingelt und Sigrid Benesch erfährt, dass ihre Tochter Sigrun mit schwersten Verletzungen im Krankenaus liegt. Ein Betrunkener, 47 Jahre alt, hat die 20-jährige Studentin und eine Freudin angefahren, ist geflüchtet; entdeckt werden die schwer verletzten Mädchen erst eine halbe Stunde später. Glaubt die Familie anfangs noch an das Überleben ihrer Tochter, so zeigen die nächsten zehn Tage, dass alles Hoffen keinen Sinn hat. Sigruns Gehirn ist tot, die lebenserhaltenden Maßnahmen werden am 19. Jänner 1996, zehn Tage nach dem Unfall, abgestellt.
Die Zeit heilt keine Wunden
Das alles ist 14 Jahre her, eine lange Zeit, mag manch einer denken. Die Zeit heilt doch Wunden. Aber nicht für eine Familie, die ihre Tochter, ihre Schwester, ihr Enkelkind verloren hat. "Das wäre gelogen", sagt Sigrid Benesch, damals Volksschullehrerin, heute Direktorin. "Unser Leben ist einfach unheilbar zerstört, diese Lücke kann sich nicht mehr schließen und das wird immer so sein."
Einsatz gegen Alkohol am Steuer
Nach Sigruns Tod fängt die Familie an, sich zu engagieren. Gemeinsam mit ihren Eltern gründet Sigrid Benesch die "Aktionsgemeinschaft gegen Alkohol am Steuer". Aufkleber mit Sigruns Bild und den Worten "Alkohol am Steuer - ich bin tot" werden gedruckt, Interviews gegeben, Benesch hält Vorträge. Hauptsache die Öffentlichkeit informieren, um solche Unfälle in Zukunft zu verhindern. Eine Lichterkette wird veranstaltet, mehr als 70.000 Unterschriften für die Einführung der 0,5-Promille-Grenze gesammelt, Sigrid Benesch tritt im Fernsehen auf, gibt einen persönlichen Text für eine Info-Broschüre frei, wird zur "Salzburgerin des Jahres" gewählt.
"Nichts hilft, gar nichts"
Es ist ein Kampf, den die Familie bis heute weiterkämpft. Es habe geholfen, den Schmerz zu überwinden, würde man an dieser Stelle vielleicht gerne lesen. Aber auch das wäre gelogen. "Selbst helfen tut einem das gar nicht", sagt Benesch, "nichts hilft, gar nichts." Aber sie habe ja noch andere Kinder, Eltern, Freunde, ihre Schulkinder - da könne man nicht zulassen, dass so etwas passiere. Benesch erinnert sich noch heute genau daran, warum sie damals an die Öffentlichkeit ging: "Wir haben, als Sigrun noch im Krankenhaus gelegen ist, darüber diskutiert: Es darf nicht sein, dass jemand betrunken einen Unfall verursacht, ihm der Führerschein genommen wird, er wieder nach Hause geht, sich den zweiten Schlüssel holt und Menschen verletzt oder gar tötet."
Begegnung mit dem Unfalllenker
Es ist Freitagnachmittag, Sigrid Benesch sitzt in ihrer Schule, draußen liegt Schnee, langsam wird es dunkel. Von einer Pinnwand lächelt ihre verstorbene Tochter Richtung Schreibtisch. Benesch erzählt wenig von dem Mann, der Sigrun auf dem Gewissen hat. Im Gericht trifft die Mutter auf ihn, "ich habe ihm gesagt, er solle sich unsere Geschichte zu Herzen nehmen und nicht mehr betrunken fahren; er solle sich überlegen, was er angerichtet hat." Zu zwei Jahren Gefängnis sei er verurteilt worden, ob er die Zeit wirklich abgesessen hat, wisse sie nicht. "Es war mir egal ob er im Gefängnis war oder wo anders, weil das Sigrun auch nicht mehr lebendig macht."
Zornig über Machtlosigkeit
Wut habe sie nie empfunden gegenüber dem damals 47-jährigen Alkolenker. Zornig mache sie nur, wenn jemand solche Unfälle nicht verhindere. "Wenn die Leute wissen, dass jemand häufig betrunken mit dem Auto fährt, und nichts dagegen tun." Denn Alkolenker seien nunmal im Moment des Fahrens stark beeinträchtigt. "Da müsste jemand anderer den Mut haben, aufstehen und sagen: 'So, aus, heute nicht.' Aber das ist halt schwer - und diese Machtlosigkeit macht mich eher böse." Auch wer sich betrinke und dabei genau wisse, später selbst noch das Lenkrad in die Hand zu nehmen, ist für Benesch "so gefährlich wie jemand, der mit der Pistole durch die Straße rennt." "Wie ein Amokläufer" laufe so jemand durch die Gegend; so etwas dürfe sie als Mutter eines toten Kindes sagen.
Appell an die Zivilcourage
Die Unfallstelle meidet sie, auch das Unfallkrankenhaus, in dem sie um das Leben ihrer Tochter gebangt hat. Weihnachten im Kreis der Familie kann sie seither nicht mehr ertragen, Meldungen über ähnliche Schicksale gehen ihr nahe. Dann sieht sie sofort jenen Schockzustand und jenes Panikgefühl vor sich, von denen eine Familie in so einer Situation schlagartig beherrscht wird. Benesch appelliert immer wieder an die Zivilcourage jedes Einzelnen. "Jeder muss kapieren, was passieren kann - ganz egal, ob Opfer oder Täter - für beide ist es ein schlimmer Unfall mit schlimmen Folgewirkungen." Egal ob schuldig oder unschuldig, für beide Seiten sei so etwas gleich schlimm.
Sigrid Benesch glaubt fest daran, durch ihr Engagement etwas verändert zu haben. "Ich bin davon überzeugt, dass Sigrun auf diese Weise vielen anderen das Leben gerettet hat." Das, so die Mutter, bringe ihre Tochter aber leider auch nicht wieder zurück. (derStandard.at, 25.01.2010)