"Die rumänische Intelligenzija ist an der Aufarbeitung der Diktatur und an einer Beobachtung des reinstallierten alten Apparats leider nicht interessiert": Herta Müller.

Foto: Peter Peitsch

Wien - Vergangenen Dezember nahm die in Rumänien geborene Herta Müller in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegen. Verliehen wurde ihr der Preis für "großen Mut" beim Widerstand gegen die Diktatur und, wie es Jury-Sprecher Anders Olsson ausdrückte, für die "sprachliche Energie" ihrer Prosa, "die uns von Beginn an mit einbezieht. Es steht etwas auf dem Spiel, bei dem es um Leben und Tod geht." Die Preisvergabe wurde in Rumänien heftig diskutiert, Radu Tinu, der frühere stellvertretende Securitate-Chef von Temeschwar, warf der Autorin vor, sie leide unter einer Psychose. Morgen liest Müller in Graz aus ihrem neuen Roman Atemschaukel, der die Geschichte eines jungen Rumänien-Deutschen erzählt, der 1945 in ein russisches Arbeitslager deportiert wird.

Standard: Der berüchtigte Geheimdienst Ceausescus, die Securitate, hat sich nicht aufgelöst, sondern nur umbenannt. Wie begründen Sie diese These?

Müller: Der neue Geheimdienst, der rumänische Informationsdienst SRI, sagt von sich selber, dass er 40 Prozent der alten Securitate-Leute übernommen hat. Das ist ja wohl ziemlich viel, und ich vermute, dass es noch mehr als 40 Prozent sind. Das ist also keine These, sondern eine Realität.

Standard: Wie ist es möglich, dass die Securitate 20 Jahre nach dem Sturz Ceausescus praktisch weitermacht, als sei nichts geschehen?

Müller: Sie macht nicht so weiter wie früher, es gibt keine Todesdrohungen mehr gegen mich, nur: Sie macht weiter. Sie ist offenbar nach wie vor daran interessiert, dass ich, wenn ich in Rumänien bin, merke, dass es sie gibt, dass man noch immer beobachtet, was ich tue. Wieso und warum, verstehe ich nicht. Das liegt wahrscheinlich an der Verlängerung der Gewohnheit.

Standard: Was bedeutet das für die demokratische Entwicklung Rumäniens? Immerhin gehört das Land seit 2004 zur EU?

Müller: Es bedeutet, dass die Demokratie in Rumänien eine fragwürdige Sache ist. Zum Teil gibt es Ansätze, aber die werden von diesem alten Apparat boykottiert, zunichte gemacht. Und die Korruption in Rumänien, alles, was von der EU ständig an Vorwürfen geäußert wird, hängt damit zusammen, dass die alten Seilschaften sich bedienen, sich kennen, einander helfen.

Standard: Stehen Sie mit Ihrer Kritik alleine, oder wird sie auch von anderen in Rumänien unterstützt?

Müller: Ich stehe damit nicht ganz alleine, aber ich bin ja nicht in Rumänien, ich lebe in Deutschland. Die meisten Leute in Rumänien sagen dasselbe, aber das äußert sich meistens nur im privaten Milieu. Dass man offiziell etwas dagegen unternimmt, ist unwahrscheinlich. Das können einzelne vermutlich auch gar nicht. Das müsste die Justiz machen. Das müsste die rumänische Birtler-Behörde machen - die Akten öffnen und so weiter. Diese Aktivitäten müssten dann auch Folgen haben. Aber das passiert nicht.

Standard: Was machen die rumänische Presse und die Intellektuellen in dieser Situation?

Müller: Eine Gesamtübersicht habe ich nicht, weil ich die rumänischen Zeitungen nicht ständig lese. Die rumänische Presse deckt zwar zum Teil Skandale auf, und es werden auch Artikel über Korruption und Spitzel geschrieben. Aber das hat alles keine Folgen. Und die Intellektuellen sagen am wenigsten. Die rumänische Intelligenzija ist an der Aufarbeitung der Diktatur und an einer Beobachtung des reinstallierten alten Apparats leider nicht interessiert.

Standard: Sie sind 1987 in den Westen gegangen. Haben Sie sich von der Securitate verfolgt gefühlt?

Müller: In den ersten Jahren, als ich hier ankam, war Ceausescu noch drei Jahre im Amt, da habe ich Todesdrohungen und anonyme Anrufe bekommen. Ich wurde auch vom Verfassungsschutz gewarnt, dass ich gefährdet sei. Man gab mir verschiedene Ratschläge, was ich damals nicht tun sollte, etwa nachts durch einen Park gehen, oder in eine Wohnung, wenn ich die Leute nicht kenne, keine Zigaretten auf dem Tisch liegen lassen, nie im Parterre wohnen ... Das war keine Einbildung, das waren Tatsachen. Es ging auch noch Jahre nach dem Sturz Ceausescus so weiter. Ich war zum Beispiel in der Villa Massimo in Rom und habe auch dort anonyme Anrufe bekommen. Heute in Berlin bemerke ich nichts davon. Gottseidank. Ich sage nicht etwas, was nicht ist. Und ich leide auch nicht an Verfolgungswahn. Das hat einem der Geheimdienst immer unterstellt.

(Wolf Scheller, DER STANDARD/Printausgabe, 12.01.2010)