Trägt die Heimat mit sich: German Sadulajew.

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Wien / St. Petersburg - Im Russland der Nach-Gorbatschow-Ära wurde es einem keineswegs immer freigestellt, ob man sich als Tschetschene bezeichnen durfte. Der heute als Anwalt in St. Petersburg lebende German Sadulajew (37), Autor des berührenden Romans Ich bin Tschetschene, weist eine russische Mutter und einen tschetschenischen Vater auf. Zum Tschetschenen aber wird man gemacht: etwa von den Vertretern jener Zentralmacht, die im Verlauf zweier beispiellos blutiger Unabhängigkeitskriege das kleine, stolze Land mit Streu- und Vakuumbomben überzog - größtenteils zulasten von Frauen, Alten und Kindern, versteht sich.

Dabei ist Schadulajews autobiografisch getönte Schreibbewegung ebenso paradoxal wie einleuchtend: Wer Tschetschenien verlässt, trägt es mit sich fort. Wer sein Leben lang als Tschetschene denkt, fühlt und empfindet, dem hat sich der Anblick des Kaukasus tief ins Gemüt eingraben ("die blauen Berge"). Der misst den Frühling daran, ob die Schwalben Einzug gehalten haben. Der versteht daher auch Städte wie Sankt Petersburg nicht, weil dort die Zugvögel keine Nester bauen.

German Schadulajew schöpft aus dem tiefen Brunnen des tschetschenischen Gedächtnisses: Das Land wurde in grauer Vorzeit von Sumerern besiedelt, von hurritischen Stämmen, von Chasaren, Polowzern, Petschenegen und Dagestanern. Tschetschenische Männer dürfen nicht weinen, schreibt Sadulajew. Er, der Sohn eines Sowchosenleiters, erzählt von dörflichen Clans - von archaischen Bestattungsriten, in denen ein friedlicher Islam als kulturelles Bindemittel bis heute nachwirkt.

Und doch gibt es "Tschetschenien" in Wirklichkeit gar nicht. Als ehemalige autonome Sowjetrepublik erklärte das Land 1991 einseitig seine Unabhängigkeit. Dem Exodus der russischsprachigen Bevölkerungsteile folgten umfangreiche Kampfhandlungen, in deren Verlauf eine schlecht ausgerüstete und demotivierte Interventionsarmee lokale Guerillas bekriegte und nach tagelangem Artilleriebeschuss die Hauptstadt Grosny eroberte. Ungezählt blieben die tausenden zivilen Opfer.

Spielball der Gewalt

Ein Konglomerat locker miteinander verbundener Ethnien wurde schlagartig zum Spielball nationalistischer Interessen. Blut floss in Strömen.

Sadulajew erzählt ungerührt von den Streubomben, deren Nadeln aufgrund verheerender Zündungen die Opfer spicken. Er sieht, wie Blindgänger auf den Höfen liegen bleiben - wie seine Schwester die nichtkrepierten Geschosse mit Schüsseln bedeckt.

Und doch scheint das versehrte Leben eines durch Gewalt traumatisierten Volkes den Zumutungen der Fremdbestimmung auf geheimnisvolle Weise zu widerstehen. Dieses schmale Bändchen, zweifellos eines der unerhörten literarischen Erzeugnisse des kürzlich abgelaufenen Jahres, verweigert die Perspektiven der politischen Recht- und Machthaber. Es verzeichnet wie ein Natur- und Langgedicht die hunderten Details, die Farbspuren und Gerüche einer zu Untergang und Unterwerfung verdammten Welt. Parteilichkeit wird man dieser Prosa nicht vorwerfen können - hingegen muss man ihr Plädoyer für das unbestechliche, das poetische Gedächtnis lieben und schätzen.

Sadulajews Bekenntnis Ich bin Tschetschene mag stellvertretend für das Schicksal vieler Entwurzelter im noch jungen Jahrtausend stehen. Der nachmalige Jurist hat auf dem Bau, in einem vegetarischen Restaurant und bei einer indischen Tabakfirma gearbeitet. Das nach eigenem Bekunden stark verhaltensauffällige Kind - der kleine Sadulajew begeisterte sich für Kriegsdarstellungen und malte verbissen Schlachtengemälde ab - schrieb bereits Gedichte, ehe er Songtexte für eine Band verfasste, um schließlich mit Novellen und Erzählungen hervorzutreten.

Die Botschaft hinter Sadulajews Roman aber wäre die denkbar einfachste: "Nochtschi" (Tschetschene) bedeutet einfach: "Mensch" . Die vorliegende Beichte eines Heimatlosen erzählt von den grundlegenden Erfahrungen in einer aus dem Ruder laufenden Welt. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 13.01.2010)