Das Jahr 2010 wird ein neues Kapitel der Geschichte nach dem Kalten Krieg eröffnen. Kasachstan wird als erster Staat, der ehemals Teil der Sowjetunion war, den amtierenden Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übernehmen und dabei versuchen, ihr wieder den Stellenwert einer maßgeblichen Institution für Sicherheit in Europa zu verleihen. Auch wenn der Vorsitz Kasachstans in den Augen einiger westlicher Beteiligter nach wie vor umstritten ist, kann er der OSZE zu einer neuen Legitimität verhelfen und der Stabilisierung der gesamten nördlichen Hemisphäre von Vancouver bis Wladiwostok neuen Antrieb geben. Mit dem kasachischen OSZE-Vorsitz könnten überdies neue Wege für eine Sicherstellung der Energielieferungen von Zentralasien nach Mitteleuropa gefunden werden und er könnte wesentlichen Einfluss auf Afghanistan haben.

Als die OSZE vor 35 Jahren gegründet wurde, war es das Ziel ihrer Gründer, sie zum Kern eines vereinten Europa zu machen. In den letzten zwei Jahrzehnten ist jedoch eine Entwicklung der europäischen Architektur zu beobachten, die lediglich auf die Vorstellungen der westlichen Staaten ausgerichtet ist. In diesem Sinne wurde auch verkündet, dass die Nato und die EU wichtiger seien als die OSZE.

Deren interne Strukturen wurden verstärkt und erweitert, um die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes aufnehmen zu können, während die OSZE weiterhin nur als Plattform für die Durchsetzung gemeinsamer Normen von Demokratie und Rechtssystem diente - und dies ist mitnichten genug, um eine dritte tragende Säule der gemeinsamen Europa-Architektur zu bilden.

In den nächsten zehn Jahren werden erwartungsgemäß alle früheren Republiken von Ex-Jugoslawien in die Nato und EU eintreten. Die Vorstellung eines wahrhaftig vereinten Europa oder Westens wird dann Realität geworden sein. Die Bedeutung einer Stärkung der OSZE wird daraufhin noch eine zusätzliche wichtige Dimension bekommen und es sollte nicht zu viel Zeit damit vertan werden, darüber zu räsonieren, wie sich das Schicksal europäischer und eurasischer Länder im östlichen Teil des Kontinents gestalten wird. Werden sie von einer Mitgliedschaft in einem zukünftigen gemeinsamen europäischen Haus ausgeschlossen, der Machtsphäre Chinas hinzugerechnet oder etwa von der islamischen Welt des Nahen Ostens absorbiert werden?

Trotz ihres Rufes, völlig dysfunktional zu sein, wird die OSZE gebraucht. Im Falle einer Niederlage in Afghanistan, müsste sich die Nato einer grundlegenden Umgestaltung unterziehen. Eine erfolgreiche Strategie für Afghanistan ist ohne die Unterstützung von Russland und den Republiken Zentralasiens nicht möglich. Und Europa wird seine Energielieferungsprobleme nur lösen können, wenn es Russland und Zentralasien in einer multilateralen Energieallianz zusammenfasst.

Es ist kein Geheimnis, dass sich die EU im Hinblick auf die Art und Weise der Fortführung ih- rer östlichen Politik einem Dilemma gegenübersieht. Sollte eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegenüber dem Osten des Kontinents, Russland und alle ehemaligen Sowjetrepubliken einbinden oder Russland und die anderen autoritären Regime in die Grenzen ihres eigenen postsowjetischen Terrains verweisen?

Keine der beiden westlich dominierten Allianzen bietet die Basis für feste und stabile Beziehungen zwischen östlichen und westlichen Ländern auf der Grundlage von Gleichberechtigung und wechselseitiger Anerkennung.

Der erste Grund dafür ist im System selbst zu finden: Europäische und eurasische Staaten der OSZE, die nicht Mitglied der Nato und der EU sind, sind besorgt, dass ihre Interessen nicht berücksichtigt werden, da sie weder in der einen noch in der anderen Institution Mitglied sind. Es ist daher nur folgerichtig, die OSZE als eine wahrhaftig gesamteuropäische Organisation zu neuem Leben zu erwecken. Die OSZE hat die Fähigkeit, die Nato in allen Sicherheitsfragen, die den europäischen Kontinent betreffen, zu ergänzen. Kasachstan, als das größte Land in Zentralasien, kann diesbezüglich wichtige Ideen beisteuern. Das Bestreben Kasachstans, 2010 einen OSZE-Gipfel einzuberufen, um diese Ideen zu diskutieren, sollte daher größere Beachtung finden.

Kasachstan ist ein starker regionaler Player in der östlichen Ausdehnung Europas. Und die OSZE kann nur überleben, wenn sie die Interessen aller Mitgliedstaaten zusammenführt. Ein Scheitern der Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bedeutung der OSZE im Hinblick auf ihre eigentlichen Aufgaben, birgt die Gefahr einer erneuten Aufspaltung des europäischen Kontinents. Es ist Zeit, auch über diesen geopolitischen Aspekt nachzudenken. (Alexander Rahr, DER STANDARD, Printausgabe, 14.1.2010)