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Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin - Archivbild vom 15. Jänner 1990

Foto: AP/Jockel Finck

Berlin - Diesen Freitag jährt sich die Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin zum zwanzigsten Mal. Am 15. Jänner 1990 nahmen Bürgerkomitees, Dissidenten und Abenteurer von dem gigantischen Gebilde Besitz, das mit insgesamt 91.000 hauptamtlichen (und 189.000 inoffiziellen) Mitarbeitern die DDR beschnüffelt hatte - das Ministerium für Staatssicherheit hatte in den achtziger Jahren "eine totale flächendeckende Überwachungsarbeit angestrebt", gab die Birthler-Behörde vergangene Woche bekannt.

Nie zuvor in der Geschichte war es vorgekommen, dass ein Geheimdienst durch die Bevölkerung zu Fall gebracht wurde. Nie zuvor war ein Geheimdienst gewaltfrei abgewürgt worden. Weltweit ist die Birthler-Behörde, zuständig für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen, die einzige Behörde, die jemals die Hinterlassenschaften einer Diktatur öffentlich zugänglich gemacht hat. Und nicht zuletzt hat es noch nie in der Weltgeschichte den Versuch gegeben, die Aktenschnipsel aus 16.000 Säcken zusammenzusetzen.

In Berlin-Lichtenberg saßen 18.000 Leute in einem eigenen Stadtteil, ein Fünftel des gesamten hauptamtlichen Personals des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), untergebracht auf dem Gelände Ruschestraße, Normannenstraße, Magdalenenstraße, Gotlindestraße.

Runder Tisch

Am späten Mittag des 15. Jänner 1990 - da waren die Stasi-Büros in vier anderen DDR-Städten bereits besetzt - trafen Vertreter des Neuen Forums und der Bürgerkomitees der Bezirke in der Normannenstraße ein, um sich mit Offiziellen am Runden Tisch zusammenzusetzen. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen Demonstranten mit Transparenten, Flugblättern und Sprechchören und wollten das Gelände betreten - was ihnen auch gelang.

Ungeklärte Torfrage

Wie sie allerdings aufs Gelände kamen, das ist bis heute ungeklärt. Das DDR-Innenministerium verbreitete am Tag danach die Meldung, die Demonstranten hätten das Tor gewaltsam geöffnet. Eine glatte Lüge, wie heute feststeht: Die schwere Stahlschiebetür hätte nicht einmal ein Panzer erschüttern können, geschweige denn ein paar unbewaffnete Zivilisten.

Die Frage, wie dann aber das Tor geöffnet worden sei, ist bis heute unbeantwortet. Mutmaßlich waren es Provokateure des MfS, die von innen das Tor selbst entriegelt haben. Auch das Eintreten von Fensterscheiben, das Verwüsten von Büroräumen und das Werfen von Mobiliar oder Unterlagen auf den Hof könnte provoziert gewesen sein.

Aktenvernichtung

Unbekannte Männer in Zivilkleidung übernahmen praktisch gleich vom Eingang weg die Führung. Sie gaben vor, zu den Bürgerrechtlern zu gehören, hatten jedoch die Aufgabe, die aufgebrachten Besucher abzulenken. Sie schleusten sie zuerst in die Sozialräume und Speisesäle und verschafften damit ihren Kollegen Zeit, um Akten zu vernichten.

Die Aktenvernichter verglühten buchstäblich, viele Akten wurden gewässert, zum Verbrennen gab es zu wenig Sauerstoff, sodass die meisten Dokumente händisch zerrissen wurden.

Lebensmittelvorräte

Zu ihrer Überraschung entdeckten die Eindringliche einen offen stehenden Kühlraum, in dem Unmengen von Fleisch lagerten. Für die DDR-Bürger ungewohnt: Es war Rindfleisch aus Argentinien. In zwei weiteren Kühlräumen, mit Vorhängeschlössern versperrt, lagerten gerüchteweise Unmengen von Wild und Geflügel. Das Fleisch vom ersten Kühlraum war zum Teil schon ein halbes Jahr abgelaufen.

Außer diesen Lebensmittelvorräten hinterließ der Stasi-Apparat eindrucksvolle Zahlen. Allein im Archiv der Zentralstelle lagern mehr als 17 Millionen Karteikarten. Zusätzlich liegen dort eine Million Fotos und 90.000 Film- und Videodokumente.

Die Archive in Berlin und den Außenstellen beherbergen 120 Kilometer Schriftgut, 16,5 Kilometer zerrissene Akten und 41,7 Kilometer verfilmte Akten, das macht zusammen 180 Kilometer Papier.

Pilotprojekt zur Aktenwiederherstellung

Beim manuellen Zusammenfügen der zerrissenen Akten - die meisten der 16.250 Säcke lagern zur Zeit in Magdeburg - bräuchte man 640 Jahre. Bertram Nickolay, Projektleiter am Fraunhofer-Institut in Berlin, entwickelte ein digitales Verfahren, um alle Schnipsel mit Computerhilfe zusammenzusetzen. Damit wären die Stücke in wenigen Jahren wiederhergestellt. Es handelt sich noch um ein Pilotprojekt, dessen Finanzierung der Deutsche Bundestag erst beschließen muss. (APA/red)