STANDARD: Wirbelstürme und Erdbeben, Hungerrevolten und Diktaturen - ein Drama nach dem anderen sucht Haiti heim. Ist das eine Fatalität?
Ribbe: Ein Fluch vielleicht, aber keine Fatalität. Ich höre die Krokodile weinen und über das fatale Schicksal Haitis klagen. Ich mag mich erinnern, schon vor einigen Jahren schrieben französische Zeitungen über einen Zyklon und meinten, die Haitianer seien eben unfähig, sich selber zu regieren. Da wird alles in einen Topf geworfen, werden unbewusste rassistische Vorurteile genährt. Es gibt keine Fatalität, sondern natürliche Ursachen, und für das soziale und politische Chaos im Land gibt es ebenfalls Ursache - tief liegende historische Ursachen.
STANDARD: Welche denn?
Ribbe: Haiti ist seit 1804 unabhängig, also viel länger als etwa die afrikanischen Exkolonien. Aber wenn man genau hinschaut, kamen die Haitianer nie aus der Bevormundung, unter der sie während der Kolonial- und Sklavenzeit so grausam gelitten hatten. Die Franzosen verlangten noch im 19. Jahrhundert eine Entschädigung von 90 Millionen Gold-Francs - nach heutigem Wert acht Milliarden Euro -, damit sie ihre reiche Exkolonie in Ruhe ließen. An der Abstotterung dieses Betrages verarmte Haiti komplett. Im 20. Jahrhundert war Haiti jahrzehntelang durch die Amerikaner besetzt.
STANDARD: Dessalines, der erste Präsident des freien Haiti, erwies sich aber nach 1804 genauso als Despot wie später die Diktatoren-Dynastie der Duvaliers.
Ribbe: Sie gingen zwar aus der haitianischen Bevölkerung hervor, aber ohne Unterstützung durch den Westen hätten sie sich nie halten können. Duvalier junior, Baby Doc genannt, wohnt noch heute unbehelligt in Frankreich. Ohne ausländische Einmischung oder Unterstützung wären viele der 34 Staatsstreiche, die Haiti durchmachte, nicht möglich gewesen. Die Großmächte haben Haiti nie geholfen, sondern nur immer destabilisiert - die USA aus Angst, dass die Sklavenbefreiung auf die Südstaaten übergreife, Frankreich, weil Napoleon die Sklaverei wieder eingeführt hatte.
STANDARD: Das hat aber nichts mit dem Beben zu tun.
Ribbe: Nicht mit dem Beben, aber mit seinem Ausmaß. Es ist in Haiti besonders grausam, weil sich Leute, die mit einem oder zwei Dollar im Tag leben, kein festes Dach über dem Kopf leisten können. Die Überschwemmungen nach Wirbelstürmen fallen in Haiti auch besonders schlimm aus, weil das ganze Land abgeholzt wurde - durch die Kolonialherren, die Haiti in eine einzige Zuckerrohrplantage verwandelt hatten und dazu jährlich 50.000 Sklaven aus Afrika heranschafften. All diese haitianischen Dramen nähren sich aus dem Teufelskreis von Unterentwicklung und externer Bevormundung, von Unterdrückung und Gewalt, von Ausbeutung und Misere. Haben Sie einmal die Sturzbäche gesehen, die bei Gewittern aus den kahlen Hügeln die Städte und Dörfer heimsuchen, das heißt von dort, wo die Ärmsten nicht einmal mehr Brennholz finden? Dann erhalten Sie einen Eindruck von der Apokalypse. (Stefan Brändle, DER STANDARD - Printausgabe, 15. Jänner 2010)