Brüssel - Die Anhörung vor den zuständigen Ausschüssen des EU-Parlaments ist ein echter Stresstest. Nur in den USA werden angehende Bundesminister, das sind Kommissare, auf ähnliche Weise "gegrillt". Die Damen und Herren "Kommissarsanwärter", wie sie angesprochen werden, müssen ihre Berufskarriere und die "finanziellen Interessen" (sprich Vermögensverhältnisse) komplett offenlegen, vorab schriftlich ihre politischen Grundzüge vorstellen.
Vom Sessel des Kandidaten sieht die mündliche Anhörung so aus: Der volle Sitzungssaal wirkt viel größer, mächtiger und bedrückender, als dies etwa das Internet auf dem Bildschirm vermittelt. Der Kandidat sitzt allein an einem Tisch, ohne Assistent, vor ihm eine Digitaluhr, die die Redezeit in Sekunden zeigt. Er hat keine Zeit in seine Unterlagen zu schauen. Hinter seinem Rücken thront erhöht der Ausschussvorsitzende mit Stellvertretern. Vor ihm tut sich das ansteigende Halbrund der Abgeordneten wie ein Amphitheater auf. Er schaut auf gut 150 bis 300 Leute, Abgeordnete, Mitarbeiter, Journalisten, Techniker, dahinter die Übersetzerkabinen.
Das "Verhör" dauert drei Stunden lang, 60 bis 70 Einzelfragen werden gestellt, alles öffentlich. Die EU-Abgeordneten sind Spezialisten, jederzeit kann ein Kandidat über eine spezifische Fachfrage "aufgeblattelt" werden. Er weiß, jedes Wort, das er sagt, wird via Internet live in abertausende Büros weltweit übertragen. Jede kleine Peinlichkeit kann plötzlich riesenhaft groß werden. (tom/DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2010)