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Der goldene Bob wird beschleunigt. Lenker Appelt sitzt fast schon, Haidacher (rechts und Porträt), Winkler (li.) und Schroll schieben.

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Innsbruck/Wien - "Ich war der Letzte, der es überrissen hat", sagt Gerhard Haidacher (46) fast 18 Jahre danach. Tatsächlich war da zunächst nur Erleichterung, die der kräftige Tiroler empfunden hat, an jenem 22. Februar 1992 im Auslauf des Eiskanals von La Plagne, gleich nach dem Triumph von Bob Österreich I am vorletzten Tag der Olympischen Spiele von Albertville. Nicht wegen des jahrelang erträumten Erfolges war Haidacher erleichtert, sondern schlicht, weil er endlich wieder richtig atmen konnte.

Als zweiter Mann im Viererschlitten hätte er Lenker Ingo Appelt eigentlich als Erster gratulieren müssen zur Goldmedaille, hätte in seiner Freude dessen Helm und Schultern mit Schlägen traktieren müssen, hätte jauchzen müssen wie die hinter ihm platzierten Harald Winkler und Thomas Schroll. Aber Haidacher riss sich stattdessen schnell den Helm vom Kopf, um Luft zu bekommen. "Der Ingo ist sehr weit hinten gesessen, ich hatte wenig Platz, musste aber natürlich in meiner aerodynamischen Position bleiben. Mein Helm hat mich während der gesamten Fahrt gewürgt."

Hätte Haidacher vor der Zeit den Kopf gehoben, für nur einen freieren Atemzug, vielleicht hätten sie den Stubaier Appelt, der erst im Jahr darauf seine Karriere beendete, um das väterliche Juweliergeschäft zu übernehmen, nicht schon damals Goldschmied nennen können. 3:53,90 lautete die Gesamtzeit der Österreicher, nur zwei Hundertstel einer Sekunde lagen zwischen ihnen und Deutschland I, gesteuert vom legendären Wolfgang Hoppe. "Das sind umgelegt auf die vier Läufe über die 1600 Meter lange Bahn 32 Zentimeter. Das ist nichts", bekennt Haidacher.

Er war auch danach noch erfolgreich, war mit Lenker Hubert Schösser Vizeweltmeister, Weltcupsieger und Vierter der Olympischen Spiele in Lillehammer. Insgesamt zehn Jahre zählte Haidacher, der stolz darauf ist, der einzige tatsächlich aus Innsbruck stammende Olympiasieger zu sein, zur Weltspitze. 13 Jahre hat er den Bobsport betrieben.

Gesteuert hat er nie. Gebraucht wurden zunächst Haidachers athletische Fähigkeiten. Die fielen einem Freund, Christian Mark, auf. Mark, vor allem im Skeleton erfolgreich, hält heute noch in 10,42 Sekunden den Tiroler Landesrekord im Sprint über 100 Meter. Haidachers Bestzeit lautet 10,67. "Ich bin beim Alpenrosen-Meeting sogar gegen Ben Johnson gelaufen." Geschlagen, gibt Haidacher zu, hat er den berühmtesten aller olympischen Dopingsünder nicht. "Aber ich war auch recht schnell."

Nicht nur die Schnelligkeit machte den gelernten Bau- und Möbeltischler zum idealen zweiten Mann des Goldvierers. "Der Ingo war am Start eher ein Schwachpunkt, der Harry und der Tommy waren die Sprinter. Ich hatte die Schnellkraft, die Explosivität, die nötig ist, den Schlitten in Schwung zu bringen." Das Gerät, das heute quasi als fahrendes Denkmal mit Gästen auf der Bahn in Innsbruck-Igls unterwegs ist, wiegt immerhin an die 270 Kilogramm. Reihenweise brachen die Österreicher Startrekorde, auch nachdem Schösser die Appelt-Mannschaft komplett übernommen hatte.

Haidachers zweite Stärke war die Entwicklung des Materials. "Er war mein Ansprechpartner, war meine rechte Hand", sagt Appelt (48). Zusammen habe man jede freie Minute genützt, um materialtechnisch Fortschritte zu erzielen. "Es gibt Leute, die greifen etwas an und können das. Der Gerhard ist so einer."

Man analysierte jeden Lauf. Haidacher sagt, er habe viel Gefühl für das Gerät gehabt, er "habe gespürt, wann der Bob mit dem Arsch ausbrechen will, wie er sich in den Kurven verhält, wie das Gewicht zu verlagern ist". Heute, da er als Unternehmensberater mit Fokus auf rechtliche Fragen in ganz Europa unterwegs ist, lebt er dieses Gefühl im Auto aus. "Ich mag die schnellen, starken", sagt der ledige Vater eines 16-jährigen Sohnes.

Er ist dankbar, seine Karriere ohne schwere Verletzung überstanden zu haben. Diesbezügliches Glück ist im Bobsport, der oft schwerer Verletzte, zuweilen sogar Todesopfer fordert, notwendig. Mit Respekt erinnert sich Haidacher an den im Bürgerkrieg zerstörten Eiskanal in Sarajevo, "die härteste aller Bahnen" mit Geschwindigkeiten bis zu 150 km/h, schlechtem Eis und engen Kurven. Mit Grausen erinnert er sich an seinen Sturz in Cervinia, wo er mit dem behelmten Kopf zwischen Bande und Bob eingeklemmt wurde. "Ich war bewusstlos, hätte mir das Genick brechen können." Angst sei aber nie mitgefahren, "weil mit Angst kannst du nicht gewinnen". Österreichs Goldvierer habe sich nicht zuletzt durch seine psychische Stärke ausgezeichnet. "Wir waren knallhart."

Erst nachdem er wieder zu Atem gekommen war, an jenem 22. Februar 1992, nachdem er mitgejubelt und mitgeheult hatte über den Sieg um 32 Zentimeter, bekam Haidacher weiche Knie und ging unvergessliche 300 Meter. Den Weg zur Dopingkontrolle, den ihm Polizisten durch die Menschenmenge bahnen mussten. "Tausende sind Spalier gestanden, wollten mich berühren. Man hat mir sogar Kinder entgegengehalten. Ich habe für diese 300 Meter dreißig Minuten gebraucht." Und da habe er den Mythos Olympia so richtig gespürt. (Sigi Lützow, DER STANDARD Printausgabe 15.01.2010)