Peter Guralnik: Sweet Soul Music - Rhythm and Blues and the Southern Dream of Freedom. Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Bosworth Music, 542 S., 22, 95 €.

Bei Bear Family Records ist zudem die zehn CDs umfassende Edition Sweet Soul Music erschienen.

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Karl Fluch sprach mit Guralnick.

Standard:  Warum haben sie Ihr Buch „Sweet Soul Music" genannt? Soul transportiert ja sehr oft persönliches wie kollektives Leid?

Guralnick: Das kam von den Songs! Es gibt ja den ernsten Untertitel „Rhythm and Blues and the Southern Dream of Freedom". Ich wollte die Schönheit und Pracht der Musik unterstreichen. Ich habe damals fast zehn Jahre damit verbracht, einen Verleger für ein Buch über Soul zu finden. Blues war leichter zu vermitteln. Das lag an dem Irrglauben, Blues sei etwas Abgeschlossenes, Vergangenes, das sich untersuchen ließe.

Ich habe Musik immer als Kontinuum betrachtet. Dazu repräsentierte Soul-Music eine erstaunliche Dichte an Talent. Ich wollte, dass mein Buch etwas berührt, was meiner Meinung nach ein unbedanktes Stück Musikgeschichte war, die den „Southern Dream of Freedom" begleitet hat und der hat - wie Martin Luther King richtig hat gesagt - die Weißen ebenso befreit wie die Schwarzen.

Darum auch die umfangreiche Auflistung von Künstlern und Alben am Ende des Buchs, die nicht nur die offensichtlichsten Genre-Vertreter berücksichtigt, sondern viele wenig bekannte.

Standard:  Wann hatten Sie Erstkontakt mit dieser Musik?

Guralnick: Über die einzige schwarze Radiostation in Boston, die mich auf den Blues brachte. Da war ich etwa 18. Ich war damals vollkommen vom Blues begeistert und besuchte viele einschlägige Clubs. Als ich Soul als zeitgenössische Version des Blues erkannte, war das war eine Offenbarung für mich. Ich tauchte kopfüber ein, das war im Sommer 1964.

Standard:  Es heißt, Gospel sei Good News, macht das Soul zu Bad News?

Guralnick: Der Unterschied ist, dass Soul individueller Ausdruck ist und deshalb auch das Unglück inkludiert, während Gospel per Definition nach vorne schaut und optimistisch ist. Aber im Rahmen eines politischen Zusammenhangs war Soul zutiefst optimistisch.

Soul transportierte emotionale Ehrlichkeit. Da ging es weniger um hoffnungsvoll oder hoffnungsfrei, sondern um eine realistische Sicht. Denn nur mit Ehrlichkeit lässt sich weiter kommen. Jemand wie James Brown hat das deutlich gemacht. Seine Kunst sagte, wir müssen keine Zugeständnisse an europäische Traditionen machen, wir haben eigene. Dazu kam eine Dringlichkeit.

Ein Song wie „A Change Is Gonna Come" bedeutete nicht, dass man sich zurücklehnte und wartete, er meinte: Wir brauchen eine bessere Gesellschaft hier und jetzt! Das war ein fundamentales Versprechen, das letztlich Schwarze wie Weiße mobilisierte.

Standard:  Da fällt einem Michael Jackson ein, der eher den umgekehrten Weg ging ...

Guralnick: In seiner Geschichte ist so viel Unsicherheit, sind so viele Probleme bezüglich Selbstwert und Selbstsicht involviert, dass es schwierig ist, das zu einzuordnen. Ich weiß nicht, wie exemplarisch man ihn sehen darf. Ich glaube, es ist einfach nur eine traurige Geschichte.

Standard:  Wie wichtig war das weiße Teenager-Publikum für den Durchbruch von Soul?

Guralnick: Enorm! Diese Music wurde ein Instrument der Bürgerrechtsbewegung. Oft war ja das Publikum in schwarze und weiße Bereiche unterteilt. Wenn die Show dann losging, vermischte sich das. Das illustrierte die Sinnlosigkeit der Trennung, die sich in einer gemeinsamen Begeisterung auflöste. 40 Jahre nach Browns "Say It Loud I'm Black And I'm Proud" einen schwarzen US-Präsidenten zu haben, war damals unvorstellbar.

Musik war da genau so wichtig wie Sport, in dem ebenfalls Rassentrennung herrschte, die aber durch Talent und Begabung überwunden wurde. Sportler und Entertainer veränderten Stück um Stück das Bewusstsein der weißen Mehrheit, die bald den Außenseiterstatus vergaß, der Blues und Soul ursprünglich umgab.

Standard:  Waren sie in Boston als James Brown mit seiner Show verhinderte, dass die Rassenunruhen nach Kings Ermordung auch Boston treffen würden?

Guralnick: Ja, ich hatte Tickets für die Show, aber ich bin nicht hingegangen, sondern habe sie im Fernsehen angeschaut. Es war eine sehr verstörende Zeit. Ich werde nie vergessen, wie ich von Kings Tod erfahren habe - es war so deprimierend. Schließlich übertrug man das Konzert im Fernsehen, um möglichst viele Menschen von den Straßen fernzuhalten, ich bin dann ebenfalls zu Hause geblieben.

Standard: Sie haben ihr Buch in den 1980ern veröffentlicht, als die Soul-Ära weitgehend vorbei war, Synthesizer viele Bands ersetzt hatten. Gab es da Verbitterung unter den Musikern, mit denen sie für „Sweet Soul Music" gesprochen haben?

Guralnick: Es gab es einen großen Bogen an Gefühlen, Leute wie Johnny Jenkins, der Gitarrist von Otis Redding, fühlte sich zurückgelassen. Das war eine natürliche Reaktion auf einen Verlust. Andere wandten sich gänzlich von der Musik ab. Leute wie Solomon Burke spielten wieder in ganz kleinen Clubs - aber der besitzt ja einen unbesiegbaren Optimismus.

Ich habe einmal Joe Tex besucht, und es war eine der schönsten Begegnungen überhaupt. Als ich ihn einige Jahre später wieder traf, war er total verändert. Viele der Künstler traten immer noch auf und veröffentlichten Alben, man kann da nichts verallgemeinern. Viele hofften immer noch auf einen Hit.

Man kann es an den Alben von Burke erkennen, wie er versucht hat, sich den Trends anzupassen, die meist Irrwege waren. Als er in den 1980ern Soul Alive einspielte, wollte er es mit Overdubs zeitgenössisch klingen lassen. Wir haben ihm das ausgeredet, und das Album verkaufte über 80.000 Stück. Das war mehr als seine letzten fünf zusammen. Und das gelang ihm nur, weil er tat, was er am besten konnte, was in ihm war.

Standard:  Sie konzentrieren sich auf Southern Soul Music. Viele Soul-Fans ziehen eine Trennlinie zum schwarzen Soul-Pop, den Motown produziert hat. Wie handhaben sie das?

Guralnick: Als ich zu schreiben begonnen haben, mit 18, war es immer über Musik, für die ich eine Leidenschaft empfunden habe. Da kann man keine regionalen Unterschiede festlegen, nicht Marvin Gaye oder Stevie Wonder aussparen. Aber worauf ich immer am stärksten reagiert habe, waren dieselben Dinge, die Sam Phillips gesucht hat: Roher Expressionismus, wobei roh nicht unintelligent bedeutet.

Wenn Phillips über die herausragendsten Talente sprach, die er je kennengelernt hatte, nannte er Howlin' Wolf und Charlie Rich. Wolfs Musik besaß eine sehr elementare Kraft während Rich ein unglaublich gescheiter und subtiler Musiker war. Aber auch wenn Rich eine sehr elegante Form wählte, transportierte er diese doch elementare Emotionen. Das war eine Wucht, die sich nicht regulieren oder in eine Form pressen ließ. Das hat mich immer interessiert.

Ich kann mir die Musik von Wolf oder Wilson Pickett nicht durch den Motown Filter vorstellen. Im Guten nicht, im Schlechten nicht: Man konnte diese Künstler nicht beugen oder verändern. Berry Gordy von Motown erfand diese brillante Formel um amerikanische Teenager, schwarze und weiße, zu erreichen. Dieselbe Formel hätte bei brillanten Individualisten wie Pickett, Burke oder James Carr nicht funktioniert.

Standard: Wann sind sie erstmals in den Süden gefahren um die Plätze aufzusuchen, aus denen diese Musik kam?

Guralnick: Ich war 1969 zum ersten Mal am Memphis Blues Festival. Es war das größte Erlebnis meines Lebens: Es war nicht nur die Musik, ich fuhr mit meinem Bruder im Auto runter, und fast jeder kleine Ort besaß für mich eine Referenz an den Blues oder an den Rhythm and Blues.

Und dann Memphis! Das war für mich ein mythischer Ort, aus dem all diese großartige Musik kam. Seitdem war ich immer wieder dort. So entstand auch die Idee zu meinem Buch „Feel Like Going Home", in dem die die Veränderungen des Blues durch die Augen seiner Protagonisten aufzeigen wollte.

Standard:  Wie haben sie es damals geschafft, dass sich die von Ihnen Interviewten immer so wohl gefühlt haben, sie nicht als seltsamen Whitey wahrgenommen haben?

Guralnick: Ich hatte da kein besonders großes Selbstvertrauen, ich wusste nur, dass ich über diese Leute schreiben wollte, also trieb ich mich so lange in ihrem Umfeld herum, bis sie vergessen hatten, dass ich da war. Dann ging das meist sehr einfach. Mit Charlie Rich wurde ich so richtig befreundet, aber das war nichts, was ich angestrebt habe. Das brachte mich auch in eine schwierige Situation, denn ich habe ihn in meinem Buch „Feel Like Going Home" mit all seinen Alkoholproblemen beschrieben, ungeschönt. Das war noch einige Jahre bevor er zum Star wurde.

Aber ich muss ehrlich mit dem Leser sein. Als das Buch herauskam, dachte ich, Rich wird mich als Freund abgeschrieben haben. Eines Tages bekam ich einen Anruf vom Verleger: Charlie Rich habe eben 35 Bücher bestellt, sagte man mir. Er meinte später, es sei nicht einfach gewesen, das zu lesen, aber es sei wahr gewesen. Als ich ihn später einmal in New York sah, sagte er mir, er habe eine Überraschung für mich - und spielte zum ersten Mal den Song „Feel Like Going Home" - nach meinem Buchtitel! Wow!

Standard:  Elvis hat nie ein Soul-Album aufgenommen. Er war zwar in den einschlägigen Studio, lebte in Memphis, aber es kam nie dazu ...

Guralnick: Als er diese Session in den American Studios spielte und Sachen wie „Only The Strong Survive" oder „Any Day Now" sang, war das, glaube ich, seine Version von Soul. Aber auch Songs wie "Suspicious Minds" oder "True Love Travels" on a Gravel Road", die ja Soul-Hits wurden. Er war definitiv von dieser Musik beeinflusst, hat sie aber im Rahmen seines Empfindens umgesetzt.

Als er bei Stax aufnahm, 1973 oder so, war er persönlich wohl nicht in der Situation sich auf etwas Neues einzulassen. Er litt unter Depressionen und hatte zu viele andere Verpflichtungen. Deshalb spielte er wohl lieber Gospels, die ihm immer schon wichtig waren und nicht das, was daraus erwachsen war. Obwohl er das vielleicht geschafft hätte. Er mochte bespielsweise den Song „Burning Love" nicht, doch die Art und Weise wie er es sang, machte deutlich, dass er das Lied trotzdem mit reichlich Gefühl interpretieren konnte. Wäre er zu der Zeit offener gewesen, hätte ihn das möglicherweise auf neues Terrain geführt.

Standard:  Wie stehen Sie zu zeitgenössichem R'n'B?

Guralnick: Vieles hängt direkt mit den Wurzeln im klassischen Soul zusammen, etwa die Musik von Maxwell oder Sharon Jones, die unglaublich ist. Auch Usher lässt sich mit James Brown verbinden. Aber im Mainstream löst sich das auf, aber ich bin da kein Spezialist, eher wie Elvis. Ich gehe lieber zu alten Sachen zurück, zum Blues, zu Solomon Burke.
(DER STANDARD, Printausgabe, 16./17.1.2010)