Zur Person: Saam Faradji (37) ist Klinischer Psychologe und arbeitet in der Schmerzklinik am AKH in Linz. Der gebürtige Iraner hat in Wien studiert und sich auf psychologische Schmerztherapie und Psychoonkologie spezialisiert. Sein Spezialgebiet: Klinische Hypnose.

"Schmerz ist ein komplexes Geschehen, die Psyche löst Schmerz nicht aus, sie spielt aber eine Rolle."

Foto: Standard/Regine Hendrich

Zur Person: Richard Eyb (57) ist Orthopäde und arbeitet am SMZ-Ost in Wien. Seine Facharztausbildung hat er am AKH absolviert, er ist Spezialist für Wirbelsäulenchirurgie und zudem Mitglied der österreichischen Gesesllschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie.

"Ein guter Orthopäde greift nicht reflektorisch zur Spritze, weil sie nur in seltenen Fällen eine Lösung ist."

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Immer mehr Menschen leiden unter Rückenschmerzen. Karin Pollack sprach mit dem Orthopäden Richard Eyb und dem Psychologen Saam Faradji über Ursachen, Therapie und Auswege.

Standard: Rückenschmerzen treten bei vielen zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf. Warum?

Eyb: Mangelnde körperliche Aktivität und das viele Sitzen haben die Muskeln schwach werden lassen, dadurch werden die Bandscheiben mehr belastet, und das wirkt sich auch auf Gelenke und Bänder aus. Rückenschmerzen sind eine Folge von nicht wirbelsäulenadäquatem Verhalten, sagen wir Orthopäden.

Faradji: Es sind aber nicht nur physiologische Veränderungen, die bei Rückenschmerzen eine Rolle spielen. Es ist dies auch die Lebensphase, in der Belastung und Stress am höchsten sind, auch das ist ein Faktor. Schmerz ist ein komplexes Geschehen, die Psyche löst Schmerzen nicht aus, sie spielt aber eine Rolle.

Standard: Warum bleiben manche Menschen verschont?

Eyb: Medizinisch betrachtet ist es schlicht eine Frage des Bindegewebes. Es hängt von der Qualität des Kollagens ab.

Standard: Und die, die Pech haben?

Eyb: Für die ist das Wichtigste, die Ursachen für den Schmerz zu ergründen. Wesentlicher als alles andere ist neben der Untersuchung das ausführliche Gespräch.

Standard: Die Realität sieht aber anders aus. Die meisten Orthopäden spritzen den Schmerz weg.

Eyb: Ein guter Orthopäde greift nicht reflektorisch zur Spritze, weil sie nur in seltenen Fällen die Lösung des Problems ist. Es ist ja sogar so, dass nicht einmal bildgebende Verfahren wie MRTs oder CT-Bilder wirklich aussagekräftig sind. Es gibt viele Menschen, von denen man aufgrund eines Bildes davon ausgehen müsste, dass sie Schmerzen haben, weil zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall sichtbar ist. Sie haben aber keine Schmerzen.

Faradji: Die Schmerzmedizin unterscheidet zwischen spezifischen und nichtspezifischen Rückenschmerzen. Bei 90 Prozent aller Rückenschmerzpatienten sind die Schmerzen nichtspezifisch, das heißt, man findet keine medizinische Ursache.

Eyb: Es sind Schmerzen ohne strukturelle Grundlage. Es tut weh, aber es ist auf Bildern nicht sichtbar. Lumbalgie lautet dann meist die Diagnose. Es ist aber schon so, dass wir die Schmerzen trotzdem ernst nehmen, und zwar als Symptom.

Faradji: Oft ist es aber so, dass die Orthopäden dann sagen: "Wir finden nichts, da muss es ein psychisches Problem geben, und das stimmt in der Form auch wieder nicht. Die Wirbelsäule per se lässt sich nicht behandeln, der ganze Mensch aber sehr wohl.

Standard: Teilen Sie Rückenschmerzpatienten in verschiedene Gruppen ein?

Eyb: Wir unterscheiden drei Arten von Schmerz: den akuten, den akut persistierenden, der zwischen sechs Wochen und drei Monaten andauert, und den chronischen Schmerz. Wir wissen, dass 90 Prozent der Patienten mit akutem Schmerz nach drei Monaten nicht mehr zum Arzt gehen.

Faradji: Was aber keineswegs bedeutet, dass die Rückenschmerzen weg sind, das hat eine im British Medical Journal publizierte Studie gezeigt, die Leute gehen nur nicht mehr zum Arzt.

Standard: Ist es deshalb, weil Ärzte meistens nicht helfen können ...

Eyb: Nein, sondern weil es sehr oft darum geht, dass Rückenschmerzpatienten ihren Lebensstil ändern müssten, es aber nicht tun. Aktivierung ist das Allerwichtigste.

Faradji: Und für Schmerzpatienten ist aber genau das sehr schwer zu verstehen. Die meisten Menschen mit Schmerzen tendieren dazu, sich ins Bett zu legen und nichts mehr zu machen, aber genau das ist falsch, denn wer in Passivität verfällt, der riskiert, von einem akuten zu einem chronischen Schmerzpatienten zu werden, und genau das gilt es zu ver- meiden.

Eyb: Optimalerweise würde es so laufen: Ein Patient kommt mit Rückenschmerzen. Nach einer genauen Untersuchung und einem Gespräch ist es so, dass sich mangelnde Bewegung als Ursache herausstellt. Und dann würde man ein Turnprogramm erarbeiten, 20 bis 30 Minuten täglich wären ideal. Wenn sich der Patient daran hielte und seine Schmerzen mit der Zeit verschwinden, dann ist das ein Behandlungserfolg. Voraussetzung dazu sind Einsicht und Bereitschaft zu Veränderung.

Standard: Das ist aber keine Realität?

Faradji: Nein, sondern die idealistische Sicht, in der Praxis schaffen das wenige Patienten. Des-halb wird heute bei der Behandlung von Schmerzpatienten ein biopsychosozialer Ansatz propagiert.

Eyb: Es gibt eine sehr eindrückliche Studie. Patienten mit akutem Rückenschmerz wurden in drei Gruppen geteilt: Die einen haben sich ins Bett gelegt, die anderen haben Physiotherapie gemacht, und eine dritte Gruppe hat sich regelmäßig im Kaffeehaus getroffen. Die Letzteren sind die Schmerzen am ehesten wieder losgeworden.

Standard: Warum eigentlich?

Eyb: Weil es um Aktivierung im umfassenden Sinn geht, um Aufgaben und Sozialkontakte.

Faradji: Bei einer anderen Studie, die unter 3000 Mitarbeitern der Firma Boing durchgeführte wurde, zeigte sich, dass die wichtigste Variable bei der Vorhersage vom Rückenschmerzen nicht der körperliche Zustand war, sondern die Arbeitszufriedenheit. Psychosoziale Faktoren haben einen weit größeren Einfluss, als es uns im Alltag bewusst ist.

Standard: Was bedeuten psychosozialen Aspekte für die Schmerzambulanz?

Faradji: Aufgabe der psychologischen Schmerztherapie ist es, Patienten dabei zu unterstützen, mit dem Schmerz umgehen zu lernen. Das bedeutet, den Schmerz beeinflussen zu können. Viele glauben, dass da nur Schmerzmittel helfen.

Standard: Sie sprechen von der Gefahr des Medikamentenmissbrauchs?

Faradji: Dass ist der Fall, wenn Patienten die Dosis der Schmerzmittel selbst bestimmen oder von einem Arzt zum anderen gehen, um Medikamente zu bekommen. Bei einer optimalen Schmerztherapie sind Medikamente nur ein Teil eines Gesamtkonzepts.

Standard: Woraus besteht das Gesamtpaket?

Faradji: Ziel ist es, die Aufmerksamkeit vom Schmerz wegzubringen. Es gibt viele Programme, die demonstrieren, dass dieses Konzept erfolgreich ist, eines habe ich unlängst an der Mayo-Klinik in den USA kennengelernt.

Eyb: Dadurch ist die Aufmerksamkeit zum Schmerz unterbrochen.

Faradji: Genau, wer immer nur an den Schmerz denkt, wird ihn stärker spüren als jemand, der abgelenkt ist - das lässt sich auch hirnphysiologisch sehr gut zeigen, denn Schmerz wird im Gehirn in unterschiedlichen Arealen verarbeitet. Er hat eine sensorische, eine affektive und eine kognitive Ebene.

Standard: Was bedeutet das in der Praxis?

Faradji: Wenn man einen Schmerzpatienten fragt, was ein guter Tag für ihn ist, wird er antworten: "Ein Tag ohne Schmerzen." Das ist dann ein sehr schwieriges Ziel für jemanden mit chronischen Schmerzen. Ergo: Viele Tage sind schlecht. Doch wenn derselbe Patient definiert, dass ein guter Tag ein Tag ist, an dem er mit seinen Enkeln gespielt hat, einen guten Film gesehen hat oder im Kaffeehaus war, dann wird er öfters gute Tage erleben. Es wird plötzlich Dinge geben, die er gestalten kann, auf diese Weise gewinnt er Kontrolle zurück. Denn ein wichtiges Ziel ist es, die Lebensqualität zu steigern. Das passiert durch Aktivität, Passivität verhindert es.

Standard: Gibt es Fälle, in denen mit Operationen geholfen werden kann?

Eyb: Eigentlich wenigen, vielleicht sechs bis sieben Prozent der akuten Schmerzpatienten. Sie zeigen meist auch andere Alarmzeichen: neurologische Ausfälle, Übelkeit, Gewichtsverlust, Tumor-Anamnese, Schmerzen im Brustkorb, auch Kreuzschmerzen bei Kindern sind besorgniserregend, weil es sich oft um Tumore handelt.

Faradji: Für den überwiegenden Teil der Patienten ist das nicht der Fall. Die Anzahl der Menschen, die über Rückenschmerzen klagen, hat über die letzten Jahr-zehnte stark zugenommen. Eine intensivere Kooperation von Orthopäden und Schmerztherapeuten wäre deshalb sinnvoll.

Eyb: Und die Lebenserwartung steigt, auch das ist ein Faktor. Rückenschmerzen sind schluss- endlich auch ein Kostenfaktor für unser Gesundheitssystem, der nicht zu unterschätzen ist. (Karin Pollak, DER STANDARD, Printausgabe, 18.01.2010)