Eine Wand hintergrundlos abgestellter Skier schmückt den Einband - fahle Farben, Schneetreiben. Ein Horizont ist ebenso wenig zu erkennen wie irgendein Anhaltspunkt zur näheren Lokalisierung des skitouristischen Settings. Hinter den Bergen heißt ein äußerlich bescheiden daherkommender Band des Tiroler Fotografen Lois Hechenblaikner. Schlägt man das Buch auf, begegnet man dem Bild abermals - und beginnt zu staunen, sofern man nicht den Verdacht der Montage oder jedenfalls der Bildbearbeitung mit Photoshop und Co hegt. Es ist das rechte Pendant in einem von über 50 Diptychen, die Hechenblaikner in dem Band kommentarlos zu doppelseitigen Gegenüberstellungen arrangiert hat: rechts seine farbigen Inspektionen aus den alpinen Alltagen der Spätmoderne, links entsprechend Schwarz-Weiß-Bilder aus der Zeit zwischen den Kriegen.

Und es sind die verblüffenden Analogien, die einen zweifeln lassen, ob das tatsächlich so vorgefunden werden konnte. Selbst Details der Komposition, Nuancen in den Formen und Dimensionen finden ihr Gegenüber, doch das Ereignis dieser - wenn man so will "double exposures" über die Jahrzehnte hinweg liegt jenseits des Formalen. Die Bilder aus Hinter den Bergen erzählen faszinierende Geschichten von der Verwandlung des alpinen Raums, seiner Menschen, Dinge und Gesten: Die Heuzieher in der Winterlandschaft finden ihre Wiedergänger in den Männern, die mit Ski-Doo und Schlitten Getränkekisten zur Schirmbar bringen. Trockengestelle für das Heu werden zu Sendemasten für die Mobiltelefonie. Und dem jungen Ausflügler (oder Einheimischen?) mit dem mächtigen Bullen steht die in der Komposition ganz entsprechende Fotografie eines Mannes mit seinem "Pistenbully" gegenüber.

Fotos: Lois Hechenblaikner

Lois Hechenblaikner ist ein geradezu besessener Dokumentarist des alpinen Tourismus, und er muss nicht nur über eine außerordentlich fotografische Aufmerksamkeit verfügen, sondern auch über ein Bildgedächtnis, das Situationen aus dem Heute fast wie ein Scanner mit dem überlieferten Bildbestand der ins Auge gefassten Landschaften und Milieus abzugleichen versteht. Doch was im Band als leicht gefundene Entsprechung erscheinen mag, ist das Ergebnis einer jahrelangen "Feldforschung" mit der Leica.

Die Diptychen des in Reith im Alpbachtal lebenden Fotografen sind eines seiner Langzeitprojekte und das Ergebnis aufwändiger Expeditionen in die brodelnden Zentren (und auch an die weniger einsichtigen Peripherien) des Tiroler Tourismus. Von dort bringt er das Material mit, das er mit den Ikonen des Archivs abgleicht - und oft trägt er die klassischen Ansichten bäuerlichen Lebens bei seinen Streifzügen durch die touristisch aufbereitete Landschaft auch im Hinterkopf mit sich herum, quasi zum Abruf bereit und als Folie für die im Heute wahrgenommenen Szenen.

Im Bundesland Tirol gibt es seit den 60er-Jahren offizielle Dorfchronisten und entsprechende kulturpolitische Programme, die ihre Arbeit an der Geschichte der Dörfer und sogenannten kleinen Leute erleichtern sollen.

Lois Hechenblaikner hat wahrscheinlich mit ihrer Arbeit ebenso wenig am Hut wie umgekehrt: Und doch würde man den Dörfern so aufmerksame Chronisten wünschen wie Hechenblaikner. Man rätselt zunächst, ob er vielleicht auch etwas von der Bilddidaktik dieses Milieus übernommen hat. Denn der Bildvergleich, die belehrende Gegenüberstellung, ist ein altes Prinzip des Heimatschutzes. Dort hat man sich vor rund hundert Jahren systematisch zu eigen gemacht, was in der Bildpropaganda seit der Reformationszeit eingeführt war und im 19. Jahrhundert sowohl die populären Bilderwelten als auch die Bildkulturen der Wissenschaft inspiriert hat. Mit dem Prinzip des Vorher/Nachher ließ sich ebenso ungetrübter Fortschrittssinn illustrieren wie auch die Zivilisationsskepsis der Zeit nach 1900 - "einst und jetzt" bedeutete nun immer öfter "gut und schlecht" .

Fotos: Lois Hechenblaikner

Bild- und wissensgeschichtlich gesehen, begibt sich Lois Hechenblaikner also eigentlich auf eine riskante Gratwanderung - dies umso mehr, als das anklagende Prinzip des Bildvergleichs für die Alpen weit an die Gegenwart heranreicht. Die historisch-vergleichenden Bilder von Gletscherschwund und Verhüttelung sind unvermeidlich präsent.

Doch mit der moralisierenden Haltung der ökologisch motivierten Vorher/nachher-Fotografie hat Hinter den Bergen nichts gemein. Hechenblaikners Diptychen sind keine platten Gegenüberstellungen, die einem sagen wollen: "Seht her, so weit ist es gekommen, das ist aus unserer stolzen bäuerlichen Kultur geworden!" . Sie beinhalten stets auch einen inhaltlichen Übersetzungsprozess, der sich nicht damit begnügt, bildliche Entsprechungen aufzudecken, sondern zugleich versucht, Veränderungsprozesse in ihrer materiellen und symbolischen Dimension zu entschlüsseln. Ein forschender Blick für die Semantik der neuen Alpenwelt vermag auf diese Art auch das Archaische im Nebensächlichen aufzudecken. Was auf den ersten Blick als schlicht dokumentierter Trash erscheinen mag, seziert Hechenblaikner feinsäuberlich. Er macht Strukturen und Mentalitäten dort erkennbar, wo der Eventbetrieb seine rasch hingestellten Kulissen hinterlassen hat.


Wir sehen Ungleichzeitigkeiten alpiner Alltage. Die ausgemachten Analogien gehen allemal unter die Haut: Wenn die Bus- und Autokolonnen dieselbe Form annehmen wie das von der Staublawine aufgehäufte Holz, wenn eine Touristin in luxuriösem Ambiente massiert wird und genauso daliegt wie die zur Schlachtbank geführte Sau der Bauern gegenüber, oder auch wenn der in der Manier des Guten Hirten mit seiner Herde Einherschreitende einem Hansi Hinterseer im Gestus des Bergpredigers gegenübergestellt wird. Hechenblaikners Aufmerksamkeit für die Einschreibungen der alpinen Moderne berührt besonders dort, wo sie den Körper selbst betreffen.

Fotos: Lois Hechenblaikner

Der Karlsruher Kunstwissenschafter Wolfgang Ullrich bemüht daher in seinem (die Arbeit Hechenblaikners trefflich situierenden) einleitenden Essay den Vergleich mit den "Pathosformeln" des deutschen Kunsthistorikers Aby Warburgs, ein Hinweis, der hilft, die festgehaltenen Gesten zu lesen, der die Analogien der unter der Mistkraxe Gebeugten und der sich zur Skigymnastik Beugenden körpergeschichtlich unterlegt. Unmissverständlich geht es Hechenblaikner um eine Anthropologie des alpinen Alltags, die den Menschen in seiner veränderten Beziehung zur Umwelt, zu seinen Mitmenschen und den daraus abgeleiteten Ordnungssystemen vorführt.

Dabei stellt sich unweigerlich ein Effekt ein, der ähnlich der Stereofotografie durch die Konfrontation von schwarz-weißem Früher und farbigem Heute eine Art drittes Bild entstehen lässt. Betrachtet man die in dem Band arrangierten Pendants zusammengekniffenen Auges, so löst das gewissermaßen ein Morphing aus, einen fließenden Übergang von einem Bild zum anderen, dessen Auskünfte jenseits der eigentlichen Momentaufnahmen liegen: Transformationen sind selten lineare Übersetzungsprozesse, sondern befördern verschiedene Bedeutungsebenen an die Oberfläche.

Unfreiwillig schlagen dabei offensichtlich ältere Denk- und Handlungsweisen, gewohnheitsmäßige Prägungen oder Mentalitäten durch. Jedenfalls regen die Bilder dazu an, darüber nachzudenken, wenn die Pin-ups der Go-go-Girls von der "Rodelhütte" ins Schaufenster gehängt werden wie die Votivtafeln in der Wallfahrtskapelle: "Maria hat geholfen!" - Nikolett und Brigitta helfen ebenso gern.

Fotos: Lois Hechenblaikner

Was Lois Hechenblaikner vorführt, ist nicht der oft beschworene "Blick hinter die Kulissen" , im Gegenteil, er zeigt die Kulissen bewusst als reale Benutzeroberflächen des modernen Alpenbenützers (und -bewohners).

Dabei ist den Bildern mitunter eine seltsame Unschuld des Vorübergehenden eigen; sie erwecken den Eindruck, dass in den eingefangenen Szenerien sich auch wieder ganz anderes ereignen könnte. Die bizarren Hinterlassenschaften der alpinen Events à la Zillertaler-Schürzenjäger-Konzert oder Ischgler "Top of the Mountain" , fast wie unfreiwillige "Land-Art" ins Bild gesetzt, erscheinen auch in ihrer ganzen Vergänglichkeit. Am "Sammelplatz" (der Skischule) sieht man dann eine Gastronomiekraft in weißer Kittelschürze die beim Après-Ski liegen gebliebenen Flaschen einsammelt.

Stutzig macht bei der Bildlektüre ein augenscheinliches Paradox: Diese Alpen erscheinen als Raum, der alles Selbsterklärende verloren hat. Während die Fotografien, die Lois Hechenblaikner aus dem Archiv - vor allem des Agraringenieurs Armin Kniely - gezogen hat, aller Informationssysteme entbehren, sind die gestalteten Landschaften und Innenräume, vollgeräumt mit Schriftzügen, Tafeln, Logos und Hinweisen.

Selbst die Kuhstall-Bar hat ihre Beschriftungen, obwohl sie so augenscheinlich signalisiert, was sie sein will und was sie bieten kann. Deshalb braucht der alpine Alltag wohl auch Exegeten wie Lois Hechenblaikner, die diese "zur Kenntlichkeit entstellten" Räume durch die Übersetzung in andere Kommunikationszusammenhänge in ihrer ganzen Brüchigkeit überhaupt noch zu erkennen helfen. (Bernhard Tschofen, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 16./17.01.2010)

Hinweis:
Lois Hechenblaikner, "Hinter den Bergen. Eine Heimatkunde" . Texte von Thomas Weski und Wolfgang Ulrich. Heidelberg, Edition Braus, 2009, € 29,90 / 120 Seiten, 25 x 22 mm, 100 Bilder, Hardcover, ISBN 978-3-89466-300-1

Zur Person:
Bernhard Tschofen, geb. 1966 in Bregenz, studierte Kulturwissenschaft in Tübingen. Seit Dezember 2004 ist er Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft/Völkerkunde an der Universität Tübingen.

Fotos: Lois Hechenblaikner