Foto: DER STANDARD

Eine paradoxe Vergeblichkeit: Während die Abgebildeten bereits ihr Gesicht verlieren, während sie vielleicht sogar längst verschollen, irgendwo zerrissen verscharrt sind, verharren sie hier auf unbestimmte Zeit - als Bild. Nicht als irgendeines. Meist stieß der Fotograf Christoph Lingg auf sorgfältige Studioporträts, emailliert und in Medaillons eingefasst, als er begann, in Friedhöfen systematisch nach den Arbeiten seiner Berufskollegen zu schauen. Vor einigen Jahren hat er den Zerfall der Industrien Osteuropas in einem in jeder Hinsicht schwerwiegenden Fotoband dokumentiert.

Nun legt er, wieder von Russland ausgehend und mit Exkursionen über Mitteleuropa bis nach Spanien, ein weiteres Werk der Vergänglichkeit vor. Weniger dramatisch, stiller - überwiegend sind es einfache Nahaufnahmen, die vom Foto im Foto leben und von den Lebensgeschichten, die einem dazu einfallen mögen. Das alte Bauernpaar in Perm, der junge Sowjetsoldat in Budapest, wahrscheinlich Anfang 1945, drei Frauen unterschiedlichen Alters in Barcelona, "Unser liebes Stefferl" in Wien: Ohne dass sie all dies vor Augen hatten, wurden deutschsprachige und ukrainische Autoren von Mitherausgeber Helmut Peschina eingeladen, kurze Texte über Verlust und Erinnerung zu schreiben. Von Jürg Amann bis Serhij Zahdan assoziierten 47 Schriftsteller frei. Lediglich Friederike Mayröcker bat um die Möglichkeit, den Zahn der Zeit auf einem bestimmten Foto zu deuten. Und Elfriede Gerstl, der der traurig schöne Band gewidmet ist, steuerte ihr wahrscheinlich letztes Gedicht bei: ( ...) die sonst so schweren füsse waren ganz leicht - in bewegung aufgelöst. habe ich den engelstatus erreicht? (Michael Freund, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 16./17.01.2010)