Ein armer Hofmeister (Niklas Kohrt, li.) blickt auf den verkommenen Adel.

Foto: Matthias Horn

Spaß und Ödnis gehen dabei Hand in Hand.

Frank Castorf traut dem Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz nicht ganz über den Weg. Bei den Wiener Festwochen 2008 inszenierte er Wolfgang Rihms Kammeroper Lenz als schwarzes Märchen, in dessen Kern aber Büchner steckte. Am Schauspielhaus Zürich hat der Intendant der Volksbühne Berlin nun Lenz' Drama Der Hofmeister inszeniert, und auch dafür nimmt Castorf Georg Büchner – und Heiner Müller – ausgiebig zu Hilfe.

Sein Vertrauen in das Stück ist gering: Ein Hauslehrer schwängert die Tochter der Herrschaftsleute und kastriert sich dann zur Strafe. In dieser ironisch mit Die Vorteile der Privaterziehung untertitelten Tragikomödie kollidieren die Werte unterschiedlicher Stände, Generationen und sittliche Überzeugungen.

Um ihre moralische Autorität infrage zu stellen, vor allem aber, weil es so schön ist, beziehen bei Castorf die noblen Standespersonen in heruntergelassenen Hosen Position. Ui, schröcklich! Es beginnt also ganz gut mit einer Menge freigelegter Oberschenkel am Schloss zu Insterburg in Preußen.

Ihr eigenes vorzügliches Benehmen möchten der Major (Robert Hunger-Bühler), die Majorin (Ursula Doll) und der Geheime Rat (Gottfried Breitfuss) gern an die Erben weitergeben. Für Leopold (Julia Kreusch) und Gustchen (Lilith Stangenberg) wird deshalb ein Hauslehrer, ein Hofmeister (Niklas Kohrt), engagiert, der neben Latein und Zeichnen auch die rechte Christenlehre unter der Jugend verbreiten soll. Doch am hinteren Ende der Schiffbauhalle im Zürcher Schauspielhaus gehen die zimmerhohen Holzkreuze schon bei der ersten Inanspruchnahme zu Bruch – als Schwerter.

Und auch sonst fliegen in dieser fünfstündigen, von Witz und Ödnis gleichermaßen durchfluteten Theatercollage die Metaphern tief: Die Trikolore zieht eine lange Bahn quer über die Bühne, eine abgekippte Fuhre Rüben lässt die Nobilität immer wieder über die sinnbildlich anwesende Ausbeutung der Arbeiter- und Bauernklasse stolpern. Das ist weniger Lenz als Büchner und Müller. Und an den Dessous und hochtoupierten Perücken der Reichen und Schönen hängt dann und wann das Stroh unzüchtiger Bettgelage.

Weil die Familie ruiniert ist, weil sein Kind eine Hure und der Sinn tot ist, will der Major unter die Bauern. Zurück zur Natur! Anstatt Yoga zu treiben, fährt er in einem halsbrecherischen Manöver mit dem Traktor aufs Feld (auf die Bühne): Dort sucht er neben der Frau und deren Grafen-Lover (Aurel Manthei) die Krise zu überdauern. Eine schöne Castorf-Szene.

Doch der Meister verzettelt sich mit einem Stück, das ihm offensichtlich zu wenig Fläche bot. Die Misere des Hofmeisters, der bei einem Klamottenkisten-Dorfschullehrer (Siggi Schwientek) Zuflucht findet, erhält dramatische Tiefe erst durch die Überlagerung mit Büchners Lenz-Novelle: Der Hofmeister ist bekanntlich das Alter Ego des Autors; Lenz hat den Beruf selbst ausgeübt.

Verrat unter Freunden

Und dann kommt auch noch Müller: Auszüge aus Die Schlacht geben einen Ausblick auf zukünftige "Weltmanieren" : Hofmeister in der SS-Uniform, eine Hakenkreuzfahne wird geschwungen, als stecke im kleinen Verrat unter Freunden schon der Anfang der Unmenschlichkeit. Wenn sich dann nicht noch jede(r) durch den Teich (Bühne: Hartmut Meyer) strampeln müsste, in den das entehrte Gustchen sich stürzen will: Da strampelt die Regie mit. Auf der Suche nach Neuem hängt Castorf als sein eigener Epigone fest. (Margarete Affenzeller aus Zürich, DER STANDARD/Printausgabe, 16./17.01.2010)