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"Was hilft es jemandem, wenn ich ihm sage, wie er sein Knie bewegen soll, wenn er geht?" Meisterpianistin Elisabeth Leonskaja.

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Standard: Frau Leonskaja, Sie leben inzwischen seit mehr als 30 Jahren in Wien. Wie war es für Sie, der damaligen Sowjetunion den Rücken zu kehren?

Leonskaja: Es ist sicher die bitterste Erfahrung des Lebens, die Heimat zu verlassen - auch wenn die Heimat so ausgesehen hat wie damals. Wenn man so einen Schritt wagt, hat man die Verantwortung, aus dem eigenen Leben etwas zu machen, nicht im Sinne der Karriere, sondern es geht darum, sich selbst besser zu machen. Ich hatte mehrere Gründe, habe mich aber vor allem darum zur Ausreise entschlossen, weil es möglich war. Es gab einen versteckten Antisemitismus; man hatte Einladungen zu Konzerten, und plötzlich durfte man nicht ausreisen. Erfahren, warum, durfte man auch nicht - das war eine absolute Hilflosigkeit. Ich muss aber auch sagen, dass ich in all diesen Jahren der glücklichste Mensch war, weil ich sehr gut mit Svjatoslav Richter befreundet war. Das war ein so großes Licht, dass alles andere sozusagen zurückgetreten ist.

Standard: Warum ist dann Ihre Entscheidung auf Wien gefallen?

Leonskaja: Dadurch, dass ich schon vor meiner Ausreise dreimal in Wien aufgetreten war, war mir klar, dass ich hier bleibe, und auch, weil ich Menschen kannte, die mich sehr unterstützt haben. Ich war eigentlich geblendet von dieser Musikatmosphäre, deshalb habe ich es gewagt. Nicht weil ich das Bessere suchen wollte, sondern weil ich dort nichts zu verlieren hatte, weil mir, sagen wir so, für das Lebensspiel Regeln angeboten wurden, die ich nicht annehmen wollte. Aber das Land zu verlassen, durch die Passkontrolle zu gehen und zu spüren, wie diese eiserne Wand hinter einem zumacht: Das war furchtbar.

Standard: Was haben Sie heute für ein Heimatgefühl?

Leonskaja: Immer dasselbe. Wenn ich dort hinkomme, bin ich wie ein Fisch im Wasser. Aber ich glaube, das macht vor allem die Sprache. Die Sprache ist die Heimat. Zu Weihnachten war ich sogar in Georgien, habe für Studenten in der Provinz gespielt, die kaum in richtige Konzerte gehen können. Obwohl ich zum Konservatorium in Tiflis sagen muss: Hut ab! Dort gibt es ein ganz hohes Niveau. Man weiß ja, wie viele georgische Namen jetzt in allen Bereichen auftauchen. Aber das kommt natürlich alles aus der alten Moskauer Schule.

Standard: Was macht diese Moskauer bzw. russische Schule beim Klavierspiel aus?

Leonskaja: Die russische Schule ist grandios und unerschöpflich, und sie trägt immer noch - auch 20 Jahre nach der Wende. In allen kleineren Städten in Russland sind Professoren, die in Moskau studiert haben, oder Schüler von Schülern, die diese Sache weiterbringen. Wenn ich sie mit einem Wort bezeichnen sollte, würde ich sagen, sie ist gesund: Man lernt, wie man das Instrument beherrscht. Es wird dabei gar nicht so viel erklärt. Denn was hilft es jemandem, wenn ich ihm sage, wie er sein Knie bewegen soll, wenn er geht? Das wird ihm jeden Schritt schwermachen. Wenn ich ihm sage: Entspann dich, wird er mit sich umgehen können.

Standard: Wie klingt das dann?

Leonskaja: Jeder russische Künstler, der in den Westen kommt, ist mit der Meinung konfrontiert, dass er "russisch" spielt, dass sein Mozart oder Beethoven "russisch" klingt. Ich habe lange darüber nachgedacht, was das bedeutet, und glaube, es sind vor allem russische Intonationen. Ich habe für mich gefunden, woran das liegt, und versuche, daran zu arbeiten.

Standard: Haben sich bei Ihrem Repertoire im Lauf der Jahre die Schwerpunkte verlagert? Zu Beginn hat man von Ihnen viel russisches Repertoire verlangt.

Leonskaja: Nein, das war Zufall. Man ist natürlich im Konzertbetrieb etwas abhängig von der Nachfrage. Im Vergleich zu russischen Pianisten ist das russische Repertoire bei mir aber schwach vertreten, besonders bei den Solosachen. Konzerte mit Orchester sind etwas anderes, weil das so großartige Stücke sind, die man nicht versäumen möchte. Und wenn man das Tschaikowsky-Konzert gespielt hat, wird man auch nach dem Skrjabin-Konzert gefragt, das ich aber nie gespielt habe. Ich habe schon in Moskau Mozart-, Beethoven- oder Brahms-Abende gegeben und nur ganz wenig Skrjabin, Rachmaninow und Prokofjew gespielt, aber mich natürlich für mich damit auseinandergesetzt. Wenn in einem Programm Prokofjew und Rachmaninow steht, dann bin ich schon misstrauisch, weil das für junge Virtuosen oft ziemlich dasselbe ist. Dabei liegen Welten zwischen beiden Künstlern.

Standard: Ihre Interpretationen haben immer schon eine große Reife ausgestrahlt. Wie ist hier Ihre Selbstwahrnehmung?

Leonskaja: Darüber kann ich schlecht berichten. Woher soll ich das wissen? Ich arbeite an mir und am Text, aber ich beobachte mich nicht, wie ich arbeite. Ich habe immer versucht, mich in die Stücke hineinzufühlen und hineinzudenken, nach dem Motto von Heinrich Neuhaus: "Finde nicht dich in der Musik, sondern Musik in dir." Das macht einen Riesenunterschied, und das sage ich zu jedem Studenten, der zu einem Meisterkurs kommt. Wenn ich ein Stück wieder ins Repertoire nehme, dann versuche ich, etwas neu zu denken, das heißt: den alten Pfad weiterzudenken. Das macht mir das Leben interessant.

(Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 16./17.01.2010)