Anstehen für Essen: Blauhelmsoldaten überwachen die Verteilung von Nahrungsmitteln in Port-au-Prince.

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Einst war Haiti die "Perle der Antillen", heute gilt der westliche Teil der Karibikinsel Hispaniola als "gescheiterter Staat". Rivalisierende Clans reißen sich um Macht und Pfründe. Die Entwicklungshilfe ist einer davon. Nach dem Beben ist der marode Staatsapparat nun vollständig abhängig von ausländischer Hilfe.

Das wissen auch die Nachbarländer. Die USA mobilisierten Flugzeugträger, ein schwimmendes Hospital und 2000 Marine-Soldaten für die Rettungsarbeiten. Außenministerin Hillary Clinton und Verteidigungsminister Robert Gates sagten Auslandsreisen wegen der Katastrophe ab. Washington hat ein geostrategisches Interesse an Haiti. Das Land liegt knapp tausend Kilometer von Miami entfernt, rund eine Million Haitianer leben in den USA. Der politische und wirtschaftliche Kollaps könnte eine große Flüchtlingswelle auslösen, sorgt sich die US-Regierung, die im eigenen Land noch mit den Auswirkungen der Finanzkrise zu kämpfen hat.

Außerdem ist Haiti ein Drehkreuz für den Drogenschmuggel - und ein weiteres Puzzlestück im regionalen Machtpoker. Der Gegner hat bereits Zeichen gesetzt: Das erste Flugzeug, das nach der Katastrophe in Port-au-Prince landete, kam aus Venezuela. Obamas linker Rivale in Lateinamerika, Hugo Chávez, will die Nase vorn haben im bizarren Wettlauf um die Solidarität.

Chávez lieferte der Halbinsel seit Jahren Erdöl zu Vorzugspreisen, und auch sein Verbündeter, das kommunistische Kuba, ist seit langem präsent auf Haiti. Rund 400 kubanische Ärzte arbeiten seit Ende der 1990er-Jahre in dem Karibikstaat und haben einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des Gesundheitssystem geleistet. Nun bietet das Beben die Gelegenheit, Einflusssphären auszuweiten.

Doch den Zweikampf hat seit einigen Jahren ein drittes Land aufgemischt. Brasilien führt seit 2004 die UN-Stabilisierungstruppe Minustah an und hat dabei durchaus Erfolge vorzuweisen. So gelang es den Blauhelmsoldaten unter brasilianischer Führung, die kriminellen Banden in den Armenvierteln in ihre Schranken zu weisen. Das Ansehen der Brasilianer bei der Bevölkerung ist hoch - wozu auch die Popularität der brasilianischen Fußballmannschaft beiträgt, die schon einmal zum Freundschaftsspiel nach Port-au-Prince kam. Für Brasilien aber ist Haiti vor allem ein Trampolin auf dem Weg zur Weltmacht und wenn möglich in den UN-Sicherheitsrat als ständiges Mitglied. (Sandra Weiss, DER STANDARD Printausgabe, 16./17.01.2010)