ESV St. Pölten um 1970

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Reinhard Weidinger zieht...

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...ab!

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derStandard.at: Wo ist Großfeldhandball gespielt worden?

Weidinger: Wir haben immer nur auf Fußballfeldern gespielt, die waren in Drittel unterteilt. Statt dem Strafraum gab es den Kreis. Was jetzt in der Halle der Sechsmeter ist, war auf dem Feld der Dreizehnmeter. Durch die große Entfernung gab es eher keine Sprungwürfe, sondern sogenannte Schlagwürfe. Man warf gerade, das war auch vom Wurftraining ganz anders. Oder Erdaufwürfe, auch um die Bodenunebenheiten für sich zu nützen. Jedenfalls war es wichtig, dass du einen scharfen Schuss gehabt hast. Dass du den Ball aus 13 Metern aufs Tor gebracht hast.

derStandard.at: Was hatten die Drittel für eine Funktion?

Weidinger: In jedem Abschnitt haben sich von jeder Mannschaft nur sechs Spieler aufhalten dürfen, das heißt, vier waren immer zum Nichtstun verurteilt. Es hat vier Verteidiger und vier nominelle Stürmer gegeben. Zwei haben immer gewechselt: Einmal die Verteidiger verstärken, aber wenn man selber im Angriff war, sind die vorgelaufen und haben die Stürmer unterstützt. Beim Gegenangriff, das ganze umgekehrt. Das hat oft die Jungen getroffen, wenn du neu in die Erste gekommen bist. Auf der anderen Seite gab es manche alte Spieler, die haben in ihrem Leben nie ein Verteidigungsdrittel betreten. Die Stürmer sind auf der Drittel-Linie stehen geblieben. Die hätten sich dort einen Liegestuhl kaufen können.

derStandard.at: Und mit dem Aufpeppeln, wie ist das gegangen?

Weidinger: Im Feldhandball hat man den Ball nach dem Auftippen fangen dürfen. Und drei Schritte dazwischen machen. Da haben manche gar nicht mehr abgegeben. Ein guter Haken war wichtig, damit hat man die Verteidiger ausspielen können. Der Ball war eine Spur größer. Ich habe einen Feldhandball nie ganz in die Hand nehmen können. Darum war auch die Schusstechnik anders. Man hatte nicht die Kontrolle, so wie bei einem modernen Ball. Man hat ungenauer geworfen, nicht aus dem Handgelenk.

derStandard.at: Wie oft ist trainiert worden?

Weidinger: Bei uns in der Landesliga zweimal die Woche. Wir haben mit Fußballschuhen gespielt, ohne Stoppel ging es nicht. Feld-Handballer waren halt immer verkannte Fußballer. Die meisten Handballer haben am Feld Fußball trainiert. Die hätten viel lieber Fußball gespielt, aber es hat nur zum Handball gereicht. (lacht) Das ist natürlich bösartig gesagt. Der Platzwart hat die Drittel-Linien ziehen müssen. Damit haben die Fußballer immer eine Freude gehabt. Im Mitteldrittel war aber praktisch nichts los, es hat im Handball kein Mittelfeld gegeben.

derStandard.at: Man hat das Mitteldrittel quasi überpasst?

Weidinger: Der Verteidiger hat versucht – wie im American Football kann man fast sagen – dass er einen weiten Pass nach vorne gibt. Da war dann plötzlich manchmal die Mannschaft im Vorteil, bei der zwei, die hätten zurücklaufen können, langsam waren. Wenn sich die gesagt haben: "Mich könnt ihr gern haben", dann hatte man im Stürm plötzlich Übergewicht. Natürlich wurde auch gewartet, neutral hin und hergepasst, bis die zwei Flügel doch noch nach vorne gedampft sind.

derStandard.at: Wie lief das Offensivspiel?

Weidinger: Wurfkanonen waren gefragt. Leute mich solchen Ärmeln (zeigt den Durchmesser eines mittleren Baumstamms). Es ging darum, denen möglichst schnell den Ball zukommen zu lassen. Ohne Armkraft hat auch der kleine Quirlige die Distanz zum Tor nicht erworfen. Die größte Verhöhnung war, wenn der Tormann einen Schuss gefangen hat. Das war ein Klassiker, der Tormann FÄNGT einen Ball des Werfers. Das war eine Demütigung. Hat der Tormann einen Ball prallen lassen, war das aber auch kein Malheur. Im großen Torraum war er ja Alleinherrscher und hatte Zeit den Ball in Ruhe aufzuheben. Auf einen Rebound brauchte man nicht zu warten.

derStandard.at: Kombiniert wurde eher weniger?

Weidinger: Natürlich hat der Trainer einmal reingeschrien "Spielt mehr!", aber die meisten waren halt vorne und haben abgezogen. Aber auch das Toreschießen...es war einfach nicht spektakulär. Die meisten haben einfach versucht, die Verteidigung zu überwerfen. Die Abwehr ausspielen, das war eher selten. Es gab mehr Kämpfe Mann gegen Mann. Die einen haben versucht den Werfer frei-, die anderen, ihn abzublocken. Das Spektakulärste beim Feldhandball waren sicher die Tormannleistungen. Weil ja der Ball relativ lang geflogen ist, haben die Tormänner schöne Paraden machen können.

derStandard.at: Vergleichbar mit Fußballtormännern?

Weidinger: Ja. Flanken gab es natürlich keine. Wenn der Tormann den Ball lange sieht, hat er Zeit, sich auf seine Parade vorzubereiten. Und da gab es schöne Aktionen. Aber das Spiel insgesamt war doch eher unattraktiv. Fantasielos. Es ist ja heute auch oft so, dass vor der Abwehr herumgespielt wird – und keiner weiß eine Lösung. Nur, es schaut halt dynamischer aus.

derStandard.at: Die Situationen wechseln schneller...

Weidinger: Man muss sich vorstellen: Bis die einmal nach vorne trappen auf einem 100-Meter-Feld, das dauert...

derStandard.at: Großfeldhandball war eine mitteleuropäische Sache?

Weidinger: Ja. Die Skandinavier haben ja eigentlich seit jeher nur Kleinfeldhandball gespielt. Auf einem Spielfeld mit den Dimensionen die es auch jetzt noch gibt, 40x20 Meter. In Österreich ist es ja dann auch so gekommen, nach der Abschaffung des Großfeldhandballs.

derStandard.at: Und wo ist das dann ausgetragen worden, auch auf Fußballfeldern?

Weidinger: Zum Teil. Eigentlich überall, wo es irgendwie gegangen ist. Sogar auf Parkplätzen, auf Asphalt. Kriminell. Absolut kriminell. Es hat kaum Regeln gegeben, erlaubt war alles, was den Gegner nicht umbringt.

derStandard.at: Der Schritt in die Halle kam also erst danach. Klingt, als ob man ein bisschen vom Alten in die neue Zeit herrüberretten wollte.

Weidinger: Wenn schon Kleinfeld, dann aber zumindest im Freien. Bis sie nach ein paar Jahren draufgekommen sind, dass das nicht viel bringt. Dann hat man sich durchgerungen, dass man eine quasi ganzjährige Hallenmeisterschaft macht. Aber man darf auch nicht vergessen, dass es in den niederösterreichischen Städten ja keine Hallen gab. Die Meisterschaft ist bis Anfang der 1970er Jahre in Korneuburg ausgetragen worden. Dort war die einzig bespielbare Halle. Alle Mannschaften sind dorthin gefahren. Die Turnhalle in St. Pölten war zum Beispiel so klein, dass sich am Anfang nur ein Fünf gegen Fünf ausgegangen ist.

derStandard.at: Sie waren bei ESV St. Pölten in der Landesliga, wieviele Mannschaften gab es da?

Weidinger: Sicher zwölf bis 14. Alleine in St. Pölten gab es vier oder fünf Teams. ESV gegen Union, das waren schon Traditionsderbys. Da sind oft 300 Zuschauer gekommen. Das war für Handball schon ordentlich, sonst hast du ja keine gehabt. Es war auch ideologiebelastet. Die Schwarzen waren bei Union, die Roten bei ESV. Es war streng verpönt, dass ein ESVler zu Union geht.

derStandard.at: Wie in Glasgow, könnte man sagen...obwohl: dort ist es mittlerweile auch akzeptiert, wenn einer von Celtic zu den Rangers wechselt. Das war bei euch noch nicht so?

Weidinger: Nein. Gewonnen hat übrigens auf lange Sicht die Union, denn die gibt es bis heute. Als dann Geld ins Spiel gekommen ist, haben die Eisenbahner bald keines mehr gehabt.

derStandard.at: Und bei den Matches war das spürbar?

Weidinger: Es gab schon immer eine gewisse Spannung, aber eher von Seiten der Funktionäre. Die Schwarzen haben gesagt, die Roten tragen sie hinein und die Roten haben gesagt, die Schwarzen tragen sie hinein. Streng genommen haben die Lehrlinge gegen die Studenten gespielt, auch wenn damals natürlich auch schon Eisenbahnerkinder in die Schule gegangen sind.

derStandard.at: War das in der Halle dann eine ganz andere Sportart?

Weidinger: Es wurde viel dynamischer, für das Publikum attraktiver. Weil es viel mehr Wurf- und Sprungszenen gegeben hat. Vieles, das heute selbstverständlich ist, hat sich erst mit der Zeit entwickelt. Der Flügel war zum Beispiel bloß Zuspieler, der hat eigentlich nur in die Mitte passen dürfen. Auf dem Großfeld war es auch normal, dass du in jeder Mannschaft einen drinnen hattest, der in einem Match die Hälfte der Tore gemacht hat. Das verteilt sich heute viel besser. Die Feldhandball-Tormänner mussten am meisten umlernen. Früher waren die Flugphasen entscheidend, dass du dich gestreckt hast und ins Kreuzeck gekommen bist. Das war nun völlig anders.

derStandard.at: Wie hat sich das aufs Training ausgewirkt?

Weidinger: Man hat viel mehr Wert auf Spielzüge gelegt. Automatismen, Taktik. Die Position des Kreisläufers ist wichtig geworden. Feldhandball war rohe Gewalt.

derStandard.at: Handball hat sich also zivilisiert?

Weidinger: Würde ich sagen. Es war früher sehr rustikal. Das Spiel ist schneller, durch das Regelwerk aber nicht mehr so gefährlich.

derStandard.at: Sind viele vom Feld in die Halle mitgewechselt, oder gab es einen großen Spieleraustausch?

Weidinger: Nein. Uns Jungen war ja klar, die Zukunft kann nur das Kleinfeld- oder Hallenhandball sein. Allerdings sind die Kader wegen der geringeren Spielerzahl kleiner geworden. Für die Schlechteren hat das die Ausmusterung bedeutet. Aber noch 1968, als ich in die Junioren-Nationalmannschaft einberufen worden bin, haben wir Großfeldhandball trainiert. Einige Funktionäre haben so getan, dass du nicht gewusst hast, spielen wir das noch die nächsten 100 Jahre? Aber die Spieler hatten den Verdacht, wir trainieren da etwas, was es bald nicht mehr geben wird. Man hat so getan, also ob die Welt in Ordnung wäre.

derStandard.at: Es war den Spielern also bewusst, das man eigentlich etwas ändern müsste?

Weidinger: Natürlich. Jedem war klar, das die restliche Welt schon Kleinfeldhandball gespielt hat. Aber eines haben die Funktionäre gewusst: Bis Österreich auf dem Kleinfeld oder in der Halle den Anschluss schafft, das wird lange dauern – und bis heute haben wir ihn nicht geschafft.

derStandard.at: In Österreich kam der Anstoß zur Modernisierung also von außen und nicht vom Verband?

Weidinger: Ja. Der Verband war gespalten. Da hat es Funktionäre gegeben, die haben am Feldhandball festgehalten, als ob es ihr Leben gewesen wäre. (Mit Reinhard Weidinger sprach Michael Robausch)

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