Jugend und Alter, auf der Bühne des Akademietheaters unheilvoll vereint: Cathérine Seifert (2. v. re.) als "Die Tochter".

Foto: Soulek

Der Trick: Figuren kehren als Gespenster wieder.

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Wien - Im Wiener Akademietheater ragt ein dünner Bootsmast aus einer der vorderen Parkettreihen empor: Die Segelstange in der Form eines schmächtigen Kreuzes tickt während der guten Stunde, die Matthias Hartmanns famos kühle Inszenierung von Jon Fosses Todesvariationen in Anspruch nimmt, wie ein Metronom.

Das Bild schmeichelt einem Text, der doch nicht weniger versucht, als die Allmacht des Todes zu beweisen. In seinen Stücken arbeitet der Norweger Fosse wie besessen an der Aufhebung der natürlichen Zeitenfolge.

Seine durchwegs unbestimmt bleibenden Figuren ("Die ältere Frau" , "Der junge Mann" ) wirken ihren natürlichen Lebenszusammenhängen wie entrückt. Dieselben Personen, aufgesplittert in die Masken ihrer Lebensalter, bevölkern zeitgleich die Bühne: Eine nach vorn gekippte, gleißend helle Schachtel (Bühne: Karl-Ernst Herrmann) wird von einem fahrbaren Scheinwerfer so erhellt, dass Junge wie Greise furchterregend hohe Schatten werfen.

Fosse-Menschen sind die stillen, melancholischen Brüter der Gegenwartsdramatik: Sie, die zumeist in Fjordnähe wohnen, schlucken schwer an ihrer Sprachohnmacht, die sie jedoch zu einem hoch künstlichen Gestammel befähigt.

Nähe und Distanz

Nähe entsteht zwischen ihnen nur in kreiselnden Bewegungen: Der Alte (Hans-Michael Rehberg) und seine entgeisterte Gemahlin (Barbara Nüsse) stehen wie erstarrt, in ihre Strickwollpanzer gehüllt. Ihre Tochter ist ins Wasser gegangen. Von rechts treten eine schwangere junge Frau (Sabine Haupt) und deren Mann (Patrick Heyn) auf: dasselbe Paar, einige Jahrzehnte jünger, linkisch mit dem Bau des Familiennestes beschäftigt. Intimität wird in diesem Eispalast bloß behauptet: Haupt tiriliert, als müsse sie ihren schweren, einfältigen Mann auf die vorgezeichnete Lebensbahn mit sich hinüberreißen.

Doch ein Rätsel reiht sich an das nächste. "Die junge Frau" (Haupt) bringt eine Tochter (Cathérine Seifert) zur Welt: ein in sich gekehrtes, ernstes und bezopftes Mädchen, das im unheilvollen Bann einer Freundesfigur steht (Johannes Zirner), in der man unschwer den Tod erkennt.

Fosses Originalität besteht nicht so sehr in der Wahl der Motive: Todesvariationen zitiert zum Beispiel die mysteriöse Elida Wangel aus Ibsens Die Frau vom Meer. Die betörende Schönheit dieser vom Blatt gespielten Inszenierung erwächst aus der Logik des Schachspiels: Jeder Zug in der Gegenwart heischt den entsprechenden Gegenzug in der Vergangenheit. Niemand kann das sich als Schattenriss ankündigende Verhängnis abwehren. Und doch herrscht in Fosses Partitur die vollendete Demokratie, in der jedes Lebensalter gleichberechtigt Sitz und Stimme genießt.

In diesem "Spiel um Nichts" existiert kein Einzelbewusstsein, das sich zum "Träger" einer zusammenhängenden Geschichte hochrechnen ließe. Trotzdem empfindet man mit jeder Figur Mitgefühl. Gewahrt das Zittern des schuldig gewordenen Vaters (Rehberg), der Frau und Kind einst wegen einer anderen verließ.

Hartmanns in Bochum und Zürich bewährte Inszenierung ist vielleicht noch umrisshafter, schärfer und untröstlicher geworden. Sie ist das Beispiel für ein Sprechtheater, in dem niemand Spaghetti hinunterschlingen muss (wie Daniel Kehlmann einst argwöhnte), um an der Ausweglosigkeit des Lebens zu würgen. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 18.01.2010)