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Ausschnitt aus dem Manuskript mit der entscheidenden Stelle

Foto: AP Photo/Lucy Young

London - Es ist der wohl berühmteste Apfel der Wissenschaftsgeschichte: jenes Kernobstexemplar, das Sir Isaac Newton auf den Kopf fiel, als er in seinem Obstgarten gerade herumgrübelte, und ihm den buchstäblichen Anstoß zur Gravitationstheorie gab. Dummerweise ist diese Geschichte wohl eher dem Reich der allzu guten Anekdoten zuzurechnen.

Diesen Schluss legt jedenfalls die erstmalige Online-Veröffentlichung jenes Textes nahe, in dem die Apfel-Geschichte zum ersten Mal erzählt wurde: William Stukeleys 1752 verfasstes, handschriftliches Manuskript Memoirs of Sir Isaac Newtons Life. In diesem Text erinnert sich Stukeley an einen warmen Frühlingsnachmittag des Jahres 1726, als ihm der bereits 83-jährige Physiker die Geschichte bei einem Tee im "Schatten einiger Apfelbäume" erzählt habe.

Das sei, so der Newton zitierende Stukeley, die gleiche Situation gewesen wie jene, als ihm damals der Begriff der Gravitation eingefallen sei. "Das wurde durch einen herabfallenden Apfel bewirkt, als er gerade im Sitzen nachdachte", schreibt Stukeley. Und weiter: "Warum sollte der Apfel stets senkrecht zu Boden fallen, fragte er sich. Warum fiel er nicht seitwärts oder aufwärts? Sondern immer konstant Richtung Erdmittelpunkt?"

Damit war die Anekdote in der Welt - erzählt von einem Greis, der ein Jahr später starb, und einem Biografen, der sich 26 Jahre später daran erinnerte. Newton habe die Geschichte "sicher selbst aufpoliert", gibt sich auch Keith Moore, Chef-Archivar der Royal Society, eher skeptisch, was den Wahrheitsgehalt der Geschichte anbetrifft. "Aber auch nachfolgende Generationen haben noch einiges an Glanz hinzugefügt."

Warum der Text am Montag online zugänglich gemacht wurde, liegt an einem runden Jubiläum: 1610 wurde in London die Royal Society gegründet, eine der ersten und wich-

tigsten Gelehrtengesellschaften, die ganz wesentlich zum Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaften beitrug. Ihre Mitglieder ließen nämlich nur experimentell bewiesene Forschungsergebnisse gelten. Das ist heute eine Selbstverständlichkeit, war damals aber eine revolutionäre Neuerung, die auch im Motto der Royal Society ihren Ausdruck fand: "Nullius in Verba", was in etwa mit "auf niemandes Worte schwören" zu übersetzen ist.

Dieses Motto gilt wohl auch für Stukeleys Manuskript, in dem noch weitere fabelhafte Anekdoten über den großen Newton erzählt werden, der selbst übrigens viele Jahre lang Präsident der Royal Society war. So berichtet Stukeley davon, wie der zerstreute Gelehrte einmal ein Pferd einen Hügel hinaufführte und in der anderen Hand ein Buch hielt, das er gerade las. Als er oben angelangte, war das Buch gelesen - und das Ross weg.

Nachsatz: Verschwiegen wird von Stukeley und auch von der Royal Society, dass Newton menschlich kein Guter war. Wie der große Gelehrte etwa seine Präsidentschaft schamlos für eigene Zwecke missbrauchte, kann man sich dieser Tage dafür wieder im Stadttheater Walfischgasse in Carl Djerassis Stück Verrechnet! anschauen. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 19. 1. 2010)