Die Bilder gingen zum 20. Jahrestag der Samtrevolution in der Tschechoslowakei noch einmal um die Welt: Alexander Dubček und Václav Havel, wie sie auf einem Balkon am Prager Wenzelsplatz zu den Menschen sprechen. Dubček und Havel, die sich auf einer Theaterbühne vor Freude um den Hals fallen. Und dazu die Erzählung von 1989 als Triumph dessen, was 1968 noch von sowjetischen Panzern niedergerollt wurde. Dubček, die Symbolfigur des Prager Frühlings, und Havel, der Bürgerrechtler der Jahre danach, die zusammen das Land in eine bessere Zukunft führen.
Insider vermuteten bereits damals, dass sich hinter dieser Fassade ein Kampf zweier Protagonisten abspielte, die nicht nur unterschiedliche politische Konzepte vertraten, sondern auch aus ihrer Lebensgeschichte heraus einen moralischen Anspruch auf die Führungsrolle als Staatspräsident ableiteten. 20 Jahre danach kann das Geschehene anhand neuer historischer Forschungsergebnisse und Memoiren damaliger Akteure rekonstruiert werden.
Das Amt des Präsidenten der Republik galt in der Tschechoslowakei seit den Tagen des Staatsgründers T.G. Masaryk als etwas Besonderes. Als eine Art republikanischer Ersatzkaiser residierte Masaryk nach 1918 auf der Prager Burg wie einst Böhmens Könige.
Das kommunistische Regime war binnen einer Woche im November 1989 wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Innerhalb der im Bürgerforum konzentrierten Opposition spielte der politisch talentierte Havel als Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 und durch die lange Haft mit großem moralischem Kapital ausgestattet die Hauptrolle, hinter ihm Freunde und Mitstreiter. "Unser Konzept war klar: bürgerliche Freiheiten, Demokratie, Marktwirtschaft" , erinnert sich Václav Žak.
Doch es gab auch eine Alternative: jene des in der Gestalt von Dubček wiederauferstandenen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" . Beide beriefen sich auf unterschiedliche Referenzmodelle: hier der demokratische Westen, dort Gorbatschow und die Perestroika, hier die mystifizierte Zwischenkriegsdemokratie, dort der nicht weniger mythenbeladene Prager Frühling.
Die Massen skandierten zwar noch "Dubček auf die Burg", doch im Bürgerforum kritisierte man neben seiner ideologischen Ausrichtung auch sein Verhalten nach 1968, als er nach dem Einmarsch der Sowjets nicht zurücktrat, sondern darauf wartete, aus seinen Ämtern entfernt zu werden, um danach jahrelang zu schweigen. Jedenfalls ungeeignet für die neue Präsidentenrolle, für die sich Havel als idealer Kandidat anbot.
Dubček genoss jedoch sowohl im Ausland als auch unter den "Alt-68ern" , vor allem aber unter den Slowaken zu großes Prestige, um einfach ignoriert zu werden. Dazu kam, dass der neue Präsident noch vom alten KP-dominierten Parlament gewählt werden sollte und die Abgeordneten wenig Lust verspürten, den noch vor kurzem als Staatsfeind Nummer 1 gehandelten "Bourgeois" an die Staatsspitze zu wählen.
Es bedurfte des neuen Premierministers Marian Čalfa, eines "gewendeten" jungen Karrierekommunisten, der die Zeichen der Zeit erkannte und dem anfangs zögernden Havel in einem Geheimtreffen anbot, die KP-Abgeordneten von der Notwendigkeit seiner Wahl zu überzeugen. Dubček wiederum konnte nur nach dramatischen Verhandlungen von einer Kandidatur abgebracht werden und gab sich mit dem Amt des Parlamentsvorsitzenden zufrieden.
Zwischen den Rivalen bildete sich später ein tragfähiges Verhältnis heraus, das auch die brüchig gewordene tschechoslowakische Einheit symbolisierte. In der ersten postkommunistischen Regierung wurde indessen ein Mann Minister, der bald sowohl Dubčeks Sozialismus als auch Havels Bürgerdemokratie in das Reich der politischen Phantasmen verweisen sollte: Václav Klaus. (Niklas Perzi/DER STANDARD, Printausgabe, 19.1.2010)